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Wird es eine Nationale Diabetesstrategie 2.0 geben?
Statement von Barbara Bitzer, Geschäftsführerin der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) und Sprecherin der Deutschen Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK), im Rahmen der Jahrespressekonferenz der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) am 20. Februar 2025 in Berlin.Die Politik muss endlich mehr Gesundheitsprävention wagen!
In wenigen Tagen (Meldung vom 20. Februar 2025, Anm. d. Red.) haben Sie - haben wir alle - die Wahl darüber, wer in Deutschland künftig regiert. Damit haben wir auch die Wahl darüber, welchen Stellenwert die Präventionspolitik in unserem Land künftig erhalten wird und wie Volkskrankheiten, beispielsweise Diabetes, gesamtgesellschaftlich wirksam eingedämmt werden können. Eines steht fest: Wir können es uns nicht mehr leisten, nichts zu tun und auf wirkungslose, freiwillige Maßnahmen der Industrie oder leere Appelle an die Eigenverantwortung zu setzen, denn sonst droht Deutschland zu einer Präventionswüste zu werden.
Ungesunde Ernährung, Bewegungsmangel, schädlicher Alkoholkonsum und Tabak: Die Risikofaktoren für nichtübertragbare Erkrankungen, beispielsweise Adipositas, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Typ-2-Diabetes oder bestimmte Krebsarten, sind hinlänglich bekannt. Mehr als 80 Prozent der vorzeitigen Todesfälle geht zurück auf Krebs, Herz-Kreislauf- und Nierenerkrankungen, Diabetes und chronische Atemwegserkrankungen. Rund 19 Prozent dieser Todesfälle wären vermeidbar, wenn Präventionsmaßnahmen frühzeitig und gesellschaftlich umfassend greifen und die Politik endlich mehr Verhältnisprävention wagen würde. Denn diese Erkrankungen haben nicht nur verheerende gesundheitliche Folgen für die Betroffenen und ihre Familien, sondern drohen auch, das Gesundheitssystem in Deutschland zu überfordern, und haben auch erhebliche Auswirkungen auf die Wirtschaft. Allein für den Diabetes fallen jährlich rund 30 Milliarden Euro Folgekosten an; für Adipositas rund 63 Milliarden Euro. In Zeiten wirtschaftlicher Herausforderungen und steigender Gesundheitskosten muss die Politik Prävention auch durch diese Brille betrachten. Denn eine gesunde Bevölkerung ist die Basis für eine leistungsfähige Wirtschaft.
Aus dem schwungvollen und mutigen Start der Ampelkoalition vor mehr als drei Jahren wurde für die Verhältnisprävention in unserem Land leider eine Dauer-Warteschleife mit zähem Ringen:
- Das Kinderlebensmittel-Werbegesetz, das mehr Kinderschutz in der Lebensmittelwerbung sicherstellen sollte und auch im Koalitionsvertrag von 2021 verankert war? Ausgebremst und mit dem Ampel-Aus wohl erst mal vom Tisch.
- Steuerliche Maßnahmen, beispielsweise eine Herstellerabgabe nach britischem Vorbild auf zuckergesüßte Getränke und im Umkehrschluss Steuererleichterungen für gesunde Lebensmittel wie Obst und Gemüse? Wurden gesellschaftlich breit diskutiert und teilweise auch politisch eingefordert, fanden aber keinen Eingang in die leider mutlose Ernährungsstrategie der Bundesregierung.
- Mehr Sport in Schule und KitaKita? Von allen immer und überall befürwortet, aber nicht umgesetzt.
Mit dem Ende der Ampelkoalition stehen wir nun wohl wieder am Anfang und werden künftig erneut diskutieren, wie viel Verhältnisprävention denn wirklich sinnvoll ist oder ob doch wieder nur mutlos auf freiwillige Maßnahmen und Aufklärung gesetzt werden soll - Maßnahmen, die bisher völlig wirkungslos geblieben sind. Die kommende Regierung muss es besser machen!
Jedes Jahr erkranken beispielsweise rund 500.000 Menschen neu an Diabetes Typ 2. Inzwischen leben mehr als 9 Millionen Menschen in unserem Land mit Diabetes. Übergewicht wird zunehmend zum "neuen Normal". 67 Prozent der Männer und 53 Prozent der Frauen in Deutschland sind inzwischen übergewichtig; fast jeder Vierte ist sogar adipös. Besonders besorgniserregend: Ein Kind aus einer sozial schwachen Familie hat ein vierfach so hohes Risiko, adipös zu werden, wie ein Kind aus einer wohlhabenden Familie. Viele dieser Fälle wären vermeidbar, wenn politisch endlich mehr Prävention gewagt werden würde.
All diese Fakten und Zahlen liegen seit Langem auf dem Tisch. Zahlreiche Länder zeigen uns eindrucksvoll, wie es gelingen kann, mehr und umfassende Maßnahmen der Verhältnisprävention politisch zu implementieren und auch gesellschaftlich zu integrieren. Die gestaffelte Herstellerabgabe auf zuckergesüßte Getränke in Großbritannien hat maßgeblich dazu beigetragen, dass der Zuckergehalt in diesen Getränken reduziert wurde und die Hersteller ihre Rezepturen angepasst haben. Die Bundesregierung dagegen hat auf eine freiwillige Reduktionsstrategie gesetzt, die jedoch gescheitert ist. So ist der durchschnittliche Zuckergehalt von Softdrinks in den Jahren 2015 bis 2021 in Deutschland nur um 2 Prozent gesunken. In Großbritannien dagegen sank der Zuckergehalt in diesen Getränken im gleichen Zeitraum um mehr als 30 Prozent.
In Chile sind Unternehmen seit 2016 dazu verpflichtet, Produkte mit hohem Zucker-, Fett- oder Salzgehalt mit deutlich sichtbaren Warnhinweisen auf der Verpackung zu kennzeichnen. Bunte Comicfiguren oder eine kindgerechte Ansprache auf den Verpackungen von Lebensmitteln mit viel Zucker, Fett und Salz sucht man dort vergebens im Supermarktregal. Es ist zudem verboten, im Fernsehen zwischen 6 und 22 Uhr Werbung für Ungesundes zu schalten, sofern sich die Produktwerbung an Kinder unter 14 Jahren richtet. Die in Chile eingeführten Werbebeschränkungen zeigen Wirkung: Kinder und Jugendliche sehen im Fernsehen deutlich weniger Werbung für ungesunde Lebensmittel. Stattdessen werden vermehrt gesündere Produkte beworben. Bereits eine Untersuchung aus dem Jahr 2022 hatte nachgewiesen, dass die umfangreichen chilenischen Maßnahmen für die dortige Lebensmittelindustrie keine signifikanten negativen Effekte auf Beschäftigung, Gewinne oder Löhne gehabt haben.
Das Wissenschaftsbündnis DANK, Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten, hat einen 6-Punkte-Plan zur Bundestagswahl veröffentlicht und seine wissenschaftsbasierten Forderungen deutlich adressiert. 22 wissenschaftlich-medizinische Fachgesellschaften, Verbände und Organisationen appellieren an die neue Bundesregierung: Stellen Sie die entscheidenden Weichen für die Prävention nichtübertragbarer Erkrankungen - mit Maßnahmen, die Menschen in allen Lebensphasen und aus allen sozialen Gruppen gleichermaßen erreichen und die öffentliche Gesundheit in unserem Land nachhaltig stärken. Eine gesunde Bevölkerung ist die Basis für eine leistungsfähige Wirtschaft.
Wir können es uns im wahrsten Sinne des Wortes nicht länger leisten, abzuwarten und nur auf Appelle und Kampagnen zu setzen, die ohnehin nur die Menschen erreichen, die bereits gesund leben. Wir müssen endlich mehr Verhältnisprävention wagen, um alle Menschen mitzunehmen - unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Bildungsstand oder ihrem Einkommen. Nun liegt es an den politisch Verantwortlichen der nächsten Bundesregierung, die Präventionspolitik neu auszurichten, und an uns allen, unsere politischen Vertreter nicht aus der Pflicht zu lassen, damit wir nach der nächsten Legislaturperiode nicht in einer Präventionswüste aufwachen.
Es gilt das gesprochene Wort!
Bildunterschrift: Barbara Bitzer
Bildquelle: www.diabsite.de