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Aktuell angewandte Diabetestechnologien in Deutschland

Statement von Dr. med. Sandra Schlüter, Vorstandsmitglied der Arbeitsgemeinschaft "Diabetes und Technologie" (AGDT), Diabetespraxis Northeim, im Rahmen der 57. Jahrestagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) am 19. Mai 2023.

Ein Überblick über Entwicklungen und Trends

Dr. med. Sandra Schlüter, Vorstandsmitglied der Arbeitsgemeinschaft 'Diabetes und Technologie' (AGDT). Insbesondere im Bereich Diabetes hat die Technologie und Digitalisierung einen großen Stellenwert. Diabetestherapie wäre ohne technische Hilfsmittel in der heutigen Form undenkbar. Die Technologie der Glukoseselbstkontrolle, der Insulininjektionshilfen und des Datenmanagements haben sich zu einer neuen Säule der modernen Diabetesbehandlung neben Schulung/Beratung und medikamentöser Therapie entwickelt.

Blutglukosemessung (SMBG)

Bei der klassischen Blutzuckerbestimmung mit Geräten zur Selbstmessung (SMBG-Systeme) ist das Bild der verfügbaren Systeme noch immer gemischt: während es sehr genaue Messsysteme gibt, erfüllen einige, auf dem Markt befindliche Systeme, die Anforderungen nicht.[2] In einer Studie wiesen drei von sieben Blutzuckermesssystemen, deren Teststreifen von gesetzlichen Krankenkassen zur Verschreibung empfohlen werden, die erforderliche Systemgenauigkeit nicht auf.[3] Neben der Messgenauigkeit unterscheiden sich die vielen Systeme vor allem in der Handhabung und den Zusatzfunktionen, wie elektronische Tagebücher, Apps oder integrierte Bolusrechner. Die Blutzuckermessung wird weiter benötigt zur Kalibration und Kontrolle von CGM-Systemen, sowie zur Überprüfung der Diabeteseinstellung bei verschiedenen Therapieformen.

Für Furore sorgen auch immer wieder neue Systeme zur nicht-invasiven Glukosemessung, die sich zum Beispiel spektroskopische Techniken zur Glukosebestimmung zunutze machen und damit dem Wunsch einer schmerzfreien Glukosemessung nachkommen. Allerdings sind die Systeme derzeit in der Regel für einen Einsatz im Diabetesalltag noch nicht geeignet.

Kontinuierliche Gewebezuckermessung (CGM)

Die Entwicklungen der CGM-Systeme gehen hin zu einer verbesserten Genauigkeit und Zuverlässigkeit, längerer Tragedauer und weniger Kalibrationen. In Bezug auf die Digitalisierung ist bei CGM-Systemen außerdem die Möglichkeit der CGM-Datenübertragung zu nennen, die der/dem Patient/in den Vorteil bietet, sich kontaktlos von der Ärztin oder dem Arzt beraten zu lassen. Diese Form der Telemedizin wurde vermehrt während der Corona-Pandemie genutzt[4], wird aber sicherlich auch zukünftig eine Rolle in der Praxis und Klinik spielen. Die von der CGM-Software berechneten Parameter können vom Diabetesteam zur Therapiebeurteilung herangezogen werden. Ein internationaler Konsensus beschreibt CGM-basierte Parameter, die zur Therapiesteuerung genutzt werden sollen und Aufnahme in Therapieempfehlungen gefunden haben.[5] Die üblicherweise von der CGM-Software ausgegebene Zeit im Zielbereich von 70-180 mg/dl sollte demnach bei über 70 Prozent liegen. Es gibt ebenfalls Zielwerte für die Zeit unterhalb und oberhalb des Bereiches oder für die Glukosevariabilität. Diese Parameter ergänzen die Informationen der bisherigen Kontrollwerte in der Diabetestherapie, so zum Beispiel den HbA1c-Wert. Die modernen Statistikparameter können aufgrund der geringen Studienlage und mangelnder Standards für CGM-Systeme den HbA1c Wert nicht ersetzen. Insbesondere zur Beurteilung der Messgenauigkeit verschiedener CGM-Systeme sind Normen ähnlich der von Blutglukosemesssystemen essenziell. Daher hat die International Federation of Clinical Chemistry and Laboratory Medicine (IFCC) eine Arbeitsgruppe gegründet und sich die Etablierung von Standards für CGM-Systeme zur Aufgabe gemacht. Erste Ergebnisse dazu sind bereits veröffentlicht.[6]

Insulinabgabe

Die meisten Menschen mit Diabetes benutzen zur Insulinapplikation einen Insulinpen. Die Entwicklung hin zu "smarten" Pens, beispielsweise mit Speicher-, Erinnerungs- oder Datenübertragungsfunktion ist in vollem Gange. Smarte Pens können ihre Daten in Apps übermitteln. In den Anwendungen ist es möglich, die Glukosedaten, zum Beispiel aus CGM-Systemen, mit den Insulindaten abzugleichen, in einen Bolusrechner nutzbar zu machen und möglicherweise in naher Zukunft Therapieempfehlungen zu geben.

Eine weitere Option der Insulinapplikation sind Insulinpumpen. Sie können im klassischen Sinn genutzt werden, das heißt eine stündlich einstellbare Basalrate wird abgegeben. Die Mahlzeitenboli werden selbst oder durch Hilfe eines Bolusrechners ermittelt. In der letzten Zeit sind verschiedene neue Patch-Pumpen auf den Markt gekommen. Weiterhin gibt es Bestrebungen die Tragedauer der Insulinpumpenkatheter von herkömmlichen Pumpen von zwei bis drei Tagen auf bis zu eine Woche zu verlängern.[7]

AID

Die automatisierte Insulindosierung (AID) stellt eine neue wichtige Option für eine verbesserte Diabetestherapie dar. Ein AID-System besteht aus einem CGM-System, einer Insulinpumpe und einem Algorithmus zur Steuerung und ermöglicht eine zum Teil automatisierte Insulindosierung (AID). So muss die/der Nutzer/in beispielsweise immer noch selbst die Insulinabgabe für Mahlzeiten veranlassen, Zeitintervalle mit nahrungsunabhängigem Insulinbedarf (zum Beispiel während der Nacht) werden jedoch von den Systemen automatisch geregelt. AID-Systeme können durch Algorithmussteuerung dem Anwender eine individuelle Diabetestherapie bieten.[8] Aufgrund nicht zu unterschätzender Komplexität der Systeme ist eine Schulung der Anwender/innen unerlässlich.[9]

Erwähnenswert ist, dass bei AID-fähigen Insulinpumpen mit kompatiblen CGM-Systemen ein Problem bei der Kostenübernahme durch die Krankenkasse besteht. Aufgrund der Regularien kann es passieren, dass eine AID-fähige Insulinpumpe keine Kostenzusage für das dazugehörige CGM-System erhält. Somit kann die Algorithmussteuerung nicht genutzt werden.

Apps

In Deutschland sind mehr als 100 Diabetes-bezogene Apps verfügbar, darunter Ernährungstagebücher, Apps zur Unterstützung von Kohlenhydratschätzung oder Insulintherapie, um nur einige zu nennen. Viele Hersteller bieten zu ihren Glukosemesssystemen auch eine App zur Datenanalyse und Aufbereitung an. Die Variabilität der Anwendungen von Apps ist sehr hoch, die Qualität und der Nutzen für die Patient/innen allerdings schwer einzuschätzen. Durch die Einführung der Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGAs) verändert sich der App-Markt. Im Digitalen-Versorgung-Gesetz (DVG) sind die Voraussetzungen zu digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) gesetzlich geregelt. Zugelassene DiGAs werden in ein Verzeichnis aufgenommen und sind verordnungsfähig.[11]

Schulung, Beratung, Weiter- und Fortbildung

Wie schon für die korrekte Nutzung von Blutzuckermesssystemen und den daraus gewonnen Daten ist auch für CGM-Systeme, Insulinpumpen und insbesondere AID-Systeme eine Schulung für die Nutzung in der Selbsttherapie unumgänglich. Menschen mit Diabetes sollten im Idealfall in der Lage sein, ihre Diabetestherapie ohne technische Hilfen steuern zu können. Technik ist nicht unfehlbar und kann ausfallen oder fehlerbehaftet sein. Daher ist es wichtig, die Technik zu verstehen, richtig einzusetzen und die korrekten Rückschlüsse für therapeutische Konsequenzen zu ziehen. Nachschulungen und intensive Beratungen im Umgang mit der Technik sind erforderlich. Ein Vergleich der Daten aus dem T1D-Exchange Register (USA) von 2016 und 2019 zeigt eine Verschlechterung der angestrebten Stoffwechselziele trotz deutlicher Zunahme von Techniknutzung (zum Beispiel CGM- und Algorithmus-gesteuerter Insulinpumpe).[12] Als mögliche Ursache kann bei ausschließlicher technischer Einweisung die fehlende therapeutische Patientenschulung in den USA sein.

Auch für die Diabetespraxen ändern sich die Anforderungen. Strukturierte Weiterbildung für Fachpersonal sollte in die Ausbildung integriert und unabhängige Fortbildungsmöglichkeiten regelmäßig angeboten werden. Das von den Arbeitsgemeinschaften der DDG für Diabetes & Technologie (AGDT) und pädiatrische Diabetologie (AGPD) entwickelte herstellerunabhängige CGM-Schulungsprogramm SPECTRUM wurde in der CGM TRAIN Studie der Wissenszuwachs mit einem standardisierten Wissenstest evaluiert[13] und für die Erwachsenen bereits publiziert.[14] Es konnte gezeigt werden, dass mit dem Schulungsprogramm SPECTRUM alle Altersklassen (Eltern von Kindern, Jugendliche und Erwachsene) profitiert haben und einen signifikanten Wissenszuwachs nach SPECTRUM aufwiesen.

Zusammenfassung

Der technische Fortschritt und die Digitalisierung bietet Menschen mit Diabetes eine individualisierte Therapiemöglichkeit je nach Lebenssituation. Dies gilt besonders für die Versorgung mit Systemen zur automatischen Insulindosisregulation. Dazu zählen mit einer App verbundene Blutzuckermess-systeme, Bolusrechner, smarte Insulinpens und AID-Systeme.

Eine Herausforderung wird es sein, die Möglichkeiten der Digitalisierung adäquat auszuschöpfen und zu nutzen. Regulatorische Vorgaben verhindern ein Konstruktives Zusammenarbeiten verschiedener Institutionen, aber auch verschiedener Technologie untereinander. Interoperabilität, offene Schnittstellen, Plattformen zur Zusammenarbeit sind wünschenswert und zwingend erforderlich, damit Menschen mit Diabetes und Diabetesfachkräfte das komplette Portfolio der Digitalisierung nutzen können.

Es gilt das gesprochene Wort!

Quellen

  1. Frielitz FS, Schlüter S, Heinemann L et al. Der Auftragsverarbeitungsvertrag (AV-Vertrag): Relevanz und praktische Bedeutung für die Diabetologie. Diabetologie und Stoffwechsel 2020. doi:10.1055/a-1185-8945. doi:10.1055/a-1185-8945
  2. Pleus S, Baumstark A, Jendrike N et al. System accuracy evaluation of 18 CE-marked current-generation blood glucose monitoring systems based on EN ISO 15197:2015. BMJ open diabetes research & care 2020; 8. doi:10.1136/bmjdrc-2019-001067
  3. Pleus S, Baumstark A, Jendrike N et al. Bewertung der Genauigkeit von Blutzuckermesssystemen, die von Krankenkassen zur Verordnung empfohlen werden, in Anlehnung an DIN EN ISO 15197: 2015. Diabetologie und Stoffwechsel 2021; 16; Vortrag, Diabetes Kongress 2021 - 55. Jahrestagung der DDG
  4. Heinemann L, Drossel D, Kaltheuner M. DiaDigital, Apps und digitale Gesundheitsanwendungen. Der Diabetologe 2021; 17: 275-282. doi:10.1007/s11428-020-00700-0
  5. Schlüter S, Deiss D, et al. Glukosemessung und -kontrolle bei Patienten mit Typ-1- oder Typ-2-Diabetes. Diabetologie und Stoffwechsel 2020; 16(S02): 119 - 141. doi: 10.1055/a-1515-8660
  6. Freckmann G, Nichols JH, Hinzmann R et al. Standardization process of continuous glucose monitoring: Traceability and performance. Clinica chimica acta; international journal of clinical chemistry 2021; 515: 5-12. doi:10.1016/j.cca.2020.12.025
  7. Heinemann L, Waldenmaier D, Kulzer B et al. Patch-Pumpen: Sind die alle gleich? Diabetes Stoffwechsel und Herz 2019; 28: 131 - 137
  8. Thomas A. Algorithmen für die automatisierte Regulierung der Insulinabgabe.
  9. Biester T, Bratina N, Lange K et al. Diabetesberatung zum Hybrid-AID-System bei Typ-1-Diabetes: neue Perspektiven und Therapieempfehlungen. Diabetologie und Stoffwechsel 2020; 15: 147-156. doi:10.1055/a-1079-4577
  10. Ng SM. User?driven, Open Source Diabetes Technology (special issue) Paediatric DIY APS. Diabetic Medicine 2021. e14630
  11. ESYSTA App & Portal - Digitales Diabetesmanagement.
  12. Maahs D. Overview of Continuous Glucose Monitoring Technology and Options—How Far Have We Come? In, ADA Scientific Sessions 2019. San Francisco; 2019
  13. Schlueter S, Freckmann G, Wernsing M et al. Entwicklung und psychometrische Evaluation eines herstellerunabhängigen Wissenstests zum kontinuierlichen Glukosemonitoring in Echtzeit für insulinbehandelte Menschen mit Diabetes. Diabetologie und Stoffwechsel 2021. doi:10.1055/a-1492-5294.
  14. Schluter S, Freckmann G, Heinemann L et al. Evaluation of the SPECTRUM training programme for real-time continuous glucose monitoring: A real-world multicentre prospective study in 120 adults with type 1 diabetes. Diabet Med 2021; 38: e14467. doi:10.1111/dme.14467

Bildunterschrift: Dr. med. Sandra Schlüter
Bildquelle: www.diabsite.de

zuletzt bearbeitet: 18.06.2023 nach oben

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