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Kinder mit Diabetes allein gelassen

Petition: Schulunterstützung in Berlin soll erhalten bleiben

Die Deutsche Diabetes-Hilfe - Menschen mit Diabetes (DDH-M) hat sich am 20. Juli 2020 mit einer Petition an das Abgeordnetenhaus von Berlin gewandt. Die Selbsthilfeorganisation fordert die Beibehaltung schulunterstützender Maßnahmen, die aus dem Berliner Schulgesetz gestrichen wurden. Die DDH-M will eine Übergangsfrist für das Schuljahr 2020/21 erreichen. Danach soll eine neue Lösung greifen, bei der die Kosten zwischen dem Land Berlin, den Krankenkassen und weiteren Kostenträgern geteilt werden. Die Abgeordneten sollen den Senat beauftragen, bei den Verhandlungen die Federführung zu übernehmen. Ziel ist die dauerhafte Übernahme der Behandlungspflege durch dafür ausgebildete Schulhelfer.

Was änderte sich?

Mit der Änderung des Berliner Schulgesetzes im September 2019 (Sonderpädagogikverordnung § 5 Abs. 1) gibt es zwar weiterhin schulunterstützende Maßnahmen, aber nur für den Bereich sonderpädagogischer Förderbedarf. Die medizinische Versorgung der Kinder mit Diabetes Typ 1 ist explizit ausgeschlossen, da es sich dabei um eine Pflichtleistung der gesetzlichen Krankenkassen handelt. Künftig muss zusätzlich zur unterstützenden Schulbetreuung ein spezialisierter Pflegedienst zu den Mahlzeiten in die Schule kommen und die Insulingabe veranlassen. Die Kapazität der Kinderpflegedienste in Berlin ist unzureichend, außerdem sind die Mitarbeiter zum großen Teil (noch) nicht in der Versorgung von Kindern Diabetes Typ 1 geschult.

Ein Praxisbeispiel

Die Berlinerin Iris Pettker hat erst kurz vor den Sommerferien erfahren, dass für ihre Tochter Luise keine Schulhelferstunden mehr bewilligt werden. Die Eltern sollen sich nun selbst um einen Pflegedienst zu kümmern. Doch die Pflegedienste in Berlin sind hoffnungslos überlastet, sie können auch nur kurz vorbeischauen. Die Schulhelferin war immer da und konnte Anzeichen einer Unterzuckerung oder von zu hohem Blutzucker frühzeitig erkennen. Stoffwechselentgleisungen bei Diabetes Typ 1 können zu lebensbedrohlichen Situationen führen. Iris Pettker sagt: "Besonders wichtig ist die Begleitung beim Sport, beim Schwimmunterricht oder auf den Klassenausflügen. Medizinische Leistungen machen vielleicht 20 Prozent aus. 80 Prozent sind Inklusion."

Wie Iris Pettker wurden viele Eltern in Berlin vor vollendete Tatsachen gestellt. Gelingt es ihnen nicht, bis zum Schulbeginn einen Pflegedienst für das Kind zu finden, müssen Eltern verkürzt arbeiten oder die Arbeit ganz aufgeben, was soziale Folgen nach sich zieht.

Es ist auch zu befürchten, dass einige Kinder mit Diabetes in Förderschule geschickt werden, um auf diese Weise die Schulbegleitung zu sichern. Das widerspricht dem Inklusionsgedanken. Die Einschulung oder Umschulung eines Kindes wegen der Diagnose Diabetes Typ 1 in eine Förderschule ist nicht zu rechtfertigen. Diese Kinder sind grundsätzlich genauso leistungsfähig wie jene ohne die chronische Erkrankung.

Lösungsvorschlag der DDH-M

Die Selbsthilfeorganisation äußert Verständnis für das Anliegen der Bildungsverwaltung, dass die gesetzlichen Krankenkassen ihre Pflichtleistungen auch bezahlen. Aber die Leistungserbringung durch zwei verschiedene Ansprechpartner geht zu Lasten der Inklusion von Kindern mit Diabetes. Unser Vorschlag ist ein "Runder Tisch" der Leistungserbringer zur Aufteilung der Kosten für sonderpädagogischen Förderbedarf und für die Behandlungspflege. Dazu soll der Senat aktiv werden.

Viele Berliner Schulhelfer haben im Umgang mit Kindern mit Diabetes Typ 1 Erfahrungen gesammelt und können auch den Bereich Behandlungspflege abdecken. Es ist wichtig, dass Schulanfänger und kleine Grundschüler einen festen Ansprechpartner haben, zu dem sie ein Vertrauensverhältnis aufbauen können. Das kann nur der Schulhelfer sein.

Bundesweiter Flickenteppich

Für die Eltern ist die Beantragung eines zusätzlichen Pflegedienstes mit erheblichem bürokratischen Aufwand verbunden. Sie werden ihre Ansprüche auf Behandlungspflege gegebenenfalls nur vor Gericht durchsetzen können, wie es Beispiele aus anderen Bundesländern zeigen. Die Rechtsprechung erfolgt in diesen Fällen durchgängig zugunsten der Eltern. Trotzdem scheuen viele Eltern diesen unbekannten und langwierigen Weg. Die Unsicherheit geht zu Lasten der Kinder mit Diabetes und ihrer Familien. Die Kinder können ihr Recht auf Bildung vielfach nur mit Einschränkungen wahrnehmen.

So berichtet zum Beispiel die Mutter Sonja Schulten aus Oberhausen (NRW), dass ihr Sohn in der Schule nur zu den Mahlzeiten Unterstützung durch einen Pflegedienst bekommt. Es gibt keinen Schulhelfer, die Lehrer haben die Unterstützung abgelehnt und wollten das Kind wegen seines Diabetes bereits von der Schule verweisen. Die alleinerziehende Mutter überwacht den oftmals stark schwankenden Blutzucker ihres Kindes nun mit Hilfe einer App. Da sie Verkäuferin ist und an der Kasse sitzt, kann sie nur in absoluten Notfällen eingreifen.

Dr. agr. (CS) Kathrin Sucker, Leiterin der Bundesgeschäftsstelle der DDH-M: "Für sehr viele Eltern beginnt schon lange vor der Einschulung die nervenaufreibende Suche nach einer Schule, die ihr Kind mit Diabetes Typ 1 aufnimmt. Ist diese gefunden, muss eine Betreuung für den Diabetes des Kindes im Schulalltag organisiert werden. Das ist ein Kraftakt für die Familien, oft muss ein Elternteil die Arbeit aufgeben, um das Kind in den Schulpausen zu versorgen. Eine Hortbetreuung und Teilnahme an Ausflügen und Schulfahrten ist häufig nicht möglich." Die DDH-M unterstützt ihre Mitglieder in diesen Fällen durch kostenfreie fachliche und rechtliche Beratung. Es ist das Ziel der Selbsthilfeorganisation, bundesweit Regelungen durchzusetzen, die Familien unterstützen und die Inklusion stärken. Die Neufassung des Berliner Schulgesetzes hingegen benachteiligt Kinder mit Diabetes Typ 1. Die Nachbesserung ist dringend nötig.

Petition im Wortlaut

zuletzt bearbeitet: 25.07.2020 nach oben

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