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Wenn sich im Alltag alles um die Krankheit dreht

Expertentenstatement zum Vortrag von Dr. med. univ. Carola Hecking, Fachärztin für Innere Medizin, Angiologie und Hämostaseologie am MVZ Gerinnungszentrum Hochtaunus, Bad Homburg, und Mutter eines Kindes mit Typ-1-Diabetes, im Rahmen der Pressekonferenz "Zukunftstag Diabetologie: 'Psychosoziale Versorgung von Menschen mit Diabetes'" der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) am 17. Oktober 2019 in Berlin.

Perspektive einer Mutter eines Kindes mit Diabetes Typ 1

Zu seinem vierten Geburtstag bekam mein Kind einen Roller und die Diagnose Diabetes mellitus. Ich hatte vorher nie darüber nachgedacht, wie umfassend sich das Leben ändern würde mit einem chronisch kranken Kind. Warum auch? Meine Kinder waren gesund, in unserem Umfeld sind alle Kinder gesund. Ich hatte keinen Grund, mich damit zu beschäftigen.

Durch den Diabetes unseres Kindes werden seither alle Teilaspekte unseres Lebens beeinflusst.

1. Medizinische Aspekte und Therapie

Die ersten Tage und Nächte war ich damit beschäftigt, alle Informationen über Diabetes und Therapien zu finden und zu lesen. Obwohl mein Mann und ich Ärzte sind, wenngleich auch keine Diabetologen, mussten wir Therapieoptionen, Feineinstellungen und Pitfalls (Fallstricke) mithilfe der Kinderdiabetologie lernen und uns ständig weiterbilden.

Nach der akuten Einlieferung ins Krankenhaus vor einem Jahr verabreichte man meinem vierjährigen Sohn das Insulin zunächst drei Tage lang mittels Pen, bis zu zehnmal pro Tag, das war zu viel für ihn. Er wollte dann nichts mehr essen, weil er Angst vor dem Spritzen hatte. Nach drei Tagen bekam er zum Glück die Pumpe, was die Insulingaben vereinfacht.

Meinem Vierjährigen regelmäßig einen Sensor und Katheter zu legen, bereitet immer wiederkehrenden Stress für Kind und Eltern. Nach fast einem Jahr hat der Kleine immer noch Angst vor den Nadeln und es braucht oft beide Eltern, damit er es zulässt. Gerade deswegen bin ich sehr glücklich, dass mein Kind eine Insulinpumpe und einen CGM-Sensor hat. Ich selber habe seit der Diagnose keine Nacht mehr durchgeschlafen. Mein Kind schläft bei mir im Zimmer, damit ich die Alarme höre, und irgendetwas geschieht immer.

2. Arbeitsleben und Kindergarten: Wie geht es weiter?

Die Sozialarbeiterin im Krankenhaus erklärte mir: Inklusionshilfe zu bekommen, sei sehr schwierig und langwierig. Am besten wäre es, ich würde meine Berufstätigkeit aufgeben. Ich habe das nicht getan. Rückblickend muss ich sagen, es war und ist sehr schwierig, Beruf und Krankheit unter einen Hut zu bringen.

2.1 Kindergarten

Mein Sohn sollte möglichst rasch zur Normalität seines Kinderlebens zurückkehren. Er ist in seinem Kindergarten das erste Kind mit einer chronischen Krankheit. Zwei Maßnahmen erschienen vordringlich:

Das größte Problem ist, dass es keine klaren Zuständigkeiten bei den Behörden gibt und sich die Bearbeitungen durch zu wenig Personal bei den Sozialbehörden verzögern. Der monatelange Kampf um eine Inklusionskraft erforderte einen aufreibenden Gang durch viele Instanzen wie Gesundheitsamt, Sozialarbeiter, Sozialrathaus, Amt für Integration, Bürgermeister, Ortsbeirat. Die Bearbeitung des Antrags und die Genehmigung einer Inklusionskraft für den Kindergarten führte erst zehn Monate nach der Diagnose zu einem positiven Abschluss.

2.2 Berufstätigkeit nur durch viel Hilfe aus meinem Umfeld möglich

Mein Arbeitsumfeld hat viel geholfen. Meine Arztkollegin, sie hat selbst Diabetes, übernahm für die nächsten sechs Wochen meine Sprechstunde zusätzlich und organisierte meine Sprechstunde so um, dass ich, seit ich wieder zu arbeiten begann, im Notfall zu meinem Kind fahren kann. Da es nicht so lange wie früher im Kindergarten bleiben kann, erledige ich alle Bürotätigkeit zu Hause abends oder am Wochenende.

Meine Mutter zog vorübergehend bei uns ein, um mich und die Kinder im Alltagsleben zu unterstützen und bei Bedarf den Kleinen zu Hause zu behalten.

Die Erzieherinnen im Kindergarten sind großartig in ihrem Umgang mit meinem Sohn. Oft ist eine Erzieherin allein mit circa 20 Kindern. Trotzdem darf mein Kind mitessen und mitmachen. Es passieren auch Fehler, natürlich, aber die Kerngruppenerziehrinnen geben nicht auf und lassen sich immer wieder von mir etwas Neues erklären und wir besprechen jeden Tag kurz den Verlauf. Aus Krankheits- oder Urlaubsgründen gibt es Tage, da ist einfach niemand da, der sich zutraut, mit der Pumpe umzugehen. Dann muss entweder einer von uns mit in den Kindergarten oder unser Kind bleibt zu Hause. Es geht ja um die Gesundheit unseres Kindes.

3. Krankenkasse

Wenn ein Kleinkind chronisch erkrankt, sollte die optimale Versorgung unkompliziert gewährleistet sein. Schließlich hat der Patient noch sein ganzes Leben vor sich. Wir waren bei einer großen Krankenversicherung. Am Tag der Entlassung, einem Freitag, fragte ich telefonisch an, wo ich die Verbrauchsmaterialien bekäme. Die Antwort war: "Da kann ich Ihnen nicht helfen, die Hilfsmittelabteilung ist nicht mehr da. Sonst müssen Sie eben über das Wochenende zurück ins Krankenhaus." Meine Kollegin half mir dann aus. Die Pumpe wurde nur auf Probe genehmigt und bis wir einen Sensor bekamen, vergingen zwei Monate. Zwei Monate, in denen ich nächtlich "blutig" alle zwei bis drei Stunden den Blutzucker meines Kindes maß.

Sehr oft habe ich mit der Versicherung telefoniert und E-Mails geschrieben wegen des Ablaufs der Probezeit der Pumpe. Ich wurde immer vertröstet. Immer hatte ich jemand anderen am Telefon. Monatelang ging das so.

Als am letzten Tag der Probezeit immer noch keine langfristige Genehmigung für die Pumpe vorlag, kündigten wir die Krankenkasse. Erst danach interessierte man sich für uns und man versuchte, uns mit allen Mitteln von der Kündigung abzuhalten. Mit unserer neuen, kleineren Kasse läuft es bisher glatter. Ich habe einen persönlichen Ansprechpartner, an den ich mich wenden kann. Das ist wichtiger als die Fitnesscenter-Gutscheine und Boni, die die große Versicherung mir angeboten hatte.

4. Sonstiges Umfeld

Mein Sohn wird nicht diskriminiert, er wird von allen Freunden weiter zu Geburtstagen eingeladen, da bin ich dann ebenfalls eingeladen. Nur ohne Begleitung kann er nirgendwo hingehen. Damit er sich nicht "exotisch" fühlt, warte ich beim Sport vor der Tür.

Was uns wirklich am meisten geholfen hätte, wäre eine Inklusionskraft zeitnah nach Diagnose im Kindergarten gewesen. Ohne Hilfe aus meinem privaten Umfeld hätte ich meinen Arbeitsplatz nicht erhalten können.

(Es gilt das gesprochene Wort!)

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zuletzt bearbeitet: 22.10.2019 nach oben

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