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Migranten mit Diabetes anders schulen!

Dr. med. Bernd Kalvelage, Mitglied der DDG-Arbeitsgemeinschaft Diabetes und Migranten und Facharzt für Innere Medizin und Diabetologie am Diabetes-Zentrum Hamburg-Wilhelmsburg im Rahmen der 44. DDG-Jahrestagung

Dr. med. Bernd Kalvelage Die Diabetes-Schulung von Migranten ist eine besonders anspruchsvolle Aufgabe. In Deutschland leben circa 1 Mio. Migranten mit Diabetes. Viele gehören der Bevölkerungsgruppe mit niedrigem sozioökonomischen Status (hier der Einfachheit halber "Unterschicht" genannt) an und sind wie Nicht-Migranten dieser sozialen Schicht häufiger betroffen von: Armut, Arbeitslosigkeit, Bildungsferne und Analphabetismus. Diese Faktoren erschweren das Erreichen des Therapieziels: Selbstmanagement des Diabetes. Patienten der "Unterschicht" sind andererseits besonders gefährdet, an chronischen Erkrankungen wie Diabetes und Herzinfarkt vorzeitig zu versterben.

Die Arbeitsgemeinschaft Diabetes und Migranten arbeitet in und mit der gesamten DDG an einer Verbesserung der Versorgung dieser Patienten und für eine Kooperation und Vernetzung derer, die sich mit besonderer psychosozialer Kompetenz und Kreativität dieser notwendigen Aufgabe widmen.

  1. Bei der diesjährigen Jahrestagung der DDG in Leipzig werden wir erste Ergebnisse vorstellen einer Studie, die in Zusammenarbeit des Instituts für Medizinische Soziologie des Universitätskrankenhauses Hamburg-Eppendorf (Christopher Kofahl) mit der AG Diabetes und Migranten initiiert wurde (CCL, Donnerstag, 21. Mai 2009, 15.00 - 18.30 Uhr). Ziel ist die Beschreibung des Ist-Zustandes der "Gesundheitskompetenz türkischstämmiger Patienten mit Diabetes".

    Die vorläufigen Ergebnisse der Pre-Test-Phase und der derzeit noch laufenden Haupterhebung zeigen:

    • Es besteht eine große gesundheitliche Beeinträchtigung nicht nur durch Begleiterkrankungen, sondern auch durch psychische Probleme (Depression).
    • Bei 70 Prozent der Betroffenen hat mindestens ein weiteres Familienmitglied (einschließlich Ehepartner) ebenfalls Diabetes. (Bedeutung der Fokussierung auf Familien, Diabetes systemisch behandeln!)
    • Das Ausmaß an Illiteralität ist hoch (30 Prozent der Frauen und 8 Prozent der Männer können gar nicht lesen; weitere 30 Prozent der Männer und Frauen nur mit großen Schwierigkeiten [faktische Illiteralität]).
    • Die Deutschkenntnisse sind meist fehlend oder gering (75 Prozent).
    • Sehr positiv: In Hamburg werden türkische Patienten mit keinen/geringen Deutschkenntnissen in türkischsprachige Schulungen überwiesen (nur etwa jeder Zehnte ist ohne Deutschkenntnisse in deutschsprachigen Schulungen) - Das wird in Flächenländern sicherlich anders sein.
    • Zwischen Männern und Frauen bestehen keine Unterschiede bei den untersuchten Versorgungs-Variablen.
    • Deutschsprachige Schulungen werden besser bewertet als solche in Türkisch ("hat mir sehr viel/viel gebracht": Deutsch 72,4 Prozent, Türkisch 50,3 Prozent), dabei bleibt zunächst offen, ob deutschsprachige Schulungen eher von den besser gebildeten Migranten besucht werden.
    • Hochsignifikant ist der "DMP-Effekt": Im DMP eingeschriebene Patienten wissen deutlich mehr über ihren Diabetes als Nicht-DMP-Teilnehmer (Kriterium: Kurzversion des Diabetes Wissen Tests des DDZ). Dennoch - der Wissensstand ist niedrig! Dieses wird auch von den Patienten selbst so eingeschätzt (über 60 Prozent schätzen ihre Diabeteskenntnis als gering bis gar nicht vorhanden ein)
    • Nur 15 Prozent können erklären, was Diabetes ist (Mindestanforderung: Zusammenspiel zwischen Insulin und Blutzucker in sehr einfachen Worten)
    • 60 Prozent der Betroffenen halten eine (weitere) Diabetes-Schulung für notwendig (unabhängig davon, ob sie bereits eine hatten oder nicht)
    • 60 Prozent der Patienten hatten bereits eine Schulung

    Zwischenfazit: Selbsthilfepotenziale sollten genutzt werden! Es gibt (wenn auch nur vereinzelt) Betroffene, die die Notwendigkeit von Schulungen und Austausch von Wissen als essenziell erkannt haben (Wissen wir aus unseren Veranstaltungen in den Moscheen). Diese Betroffenen müssen als engagierte Multiplikatoren unterstützt werden!

  2. Diese Ergebnisse belegen für Migranten, was auch für viele Patienten der "Unterschicht" gilt: Wir müssen uns auf ihre sozialen Besonderheiten einstellen, d. h. ggf. von den etablierten/evaluierten Schulungsprogrammen abweichen, Vereinfachungen vornehmen und das Prinzip der "didaktischen Reduktion" in den Schulungen vermehrt beherzigen. Das bedeutet aber keineswegs Diabetes-Schulung "light" - vielmehr sind die Leitlinien der DDG auch bei Migranten und Unterschicht-Patienten umsetzbar - aber eben anders!

    Wir werden deshalb bei unserem Symposium einen Katalog von 10 essenziellen Schulungsinhalten (ESI) zur Diskussion vorstellen und gleichzeitig vier Kriterien, an denen der Vermittlungserfolg dieser Inhalte gemessen werden kann.

    Der Erfolg soll am Grad der Selbstwirksamkeit gemessen werden, die der Patient in seinem Alltag bei der Umsetzung der Schulungsinhalte entfaltet. Dabei werden 4 maximal erreichbare Punkte für die einzelnen Inhalte vorgeschlagen. Am Beispiel der Blutzucker-Selbstmessung (ein wichtiger ESI) soll dies dargestellt werden:

    • 1 Punkt bei Fremdvermittlung der Aktion
      z.B. Blutzucker-Messung durch Angehörige oder Pflegedienst
    • 2 Punkte wenn Patient selbst wirksam wird
      also selbstständige Durchführung der Blutzucker-Messung
    • 3 Punkte wenn der Patient seine Selbstwirksamkeit dokumentiert
      z. B. durch Führen eines Blutzucker-Tagebuchs, in das die gemessenen Werte eingetragen werden.
    • 4 Punkte wenn die Selbstwirksamkeit situativ variiert werden kann
      also dann, wenn aus den gemessenen und dokumentierten Blutzucker-Werten Konsequenzen gezogen werden bezüglich der Ernährung oder der Dosierung der Medikamente (Insulindosisanpassung)

Die im Alltag erfahrbare Selbstwirksamkeit - nicht nur bezogen auf Körper, Gesundheit und Krankheit - ist nach den Erkenntnissen der Public health-Forschung abhängig vom sozioökonomischen Status. Dies wird bei den öffentlich erhobenen, pauschalen Forderungen nach mehr Eigenverantwortung der Patienten im Krankheitsfall häufig übersehen. Die DDG und die AG Diabetes und Migranten treten ein für eine Schärfung des sozialen Augenmaßes bei der Diabetesversorgung in Deutschland.

Bildunterschrift: Dr. med. Bernd Kalvelage
Bildquelle: Deutsche Diabetes-Gesellschaft (DDG)

zuletzt bearbeitet: 22.05.2009 nach oben

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