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Kinder und Jugendliche sind keine kleinen Erwachsenen

Abstract zum Vortrag von Dr. med. Olga Kordonouri im Rahmen einer Pressekonferenz zur DDG-Herbsttagung 2008.

Welche Therapiekonzepte wirken bei jungen Menschen?

Prof. Olga Kordonouri Diabetes mellitus ist die häufigste Stoffwechselerkrankung im Kindes- und Jugendalter in Deutschland. Nach aktuellen Schätzungen leben in Deutschland 10.000 bis 15.000 Kinder und Jugendliche im Alter von 0 bis 14 Jahren mit einem Typ-1-Diabetes. In der Altersgruppe von 0 bis 19 Jahren sind etwa 25.000 Kinder und Jugendliche von einem Typ-1-Diabetes betroffen.

Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes in Deutschland - die Fakten

Kinder und Jugendliche mit Adipositas und Typ-2-Diabetes in Deutschland - die Fakten

Um in der Ärzteschaft und bei Kindern und Jugendlichen mit Diabetes sowie deren Familien und Bezugspersonen und der Öffentlichkeit fundiertes Wissen über Diabetes mellitus und seine Behandlung und alle damit zusammenhängenden medizinischen, pädagogischen, sozialen und psychologischen Probleme zu vermitteln, wurde vor fünfzehn Jahren die Arbeitsgemeinschaft Pädiatrische Diabetologie (AGPD) in der Deutschen Diabetes-Gesellschaft sowie der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin gegründet.

2008 weltweit "Jahr des Kindes mit Diabetes"

Die International Diabetes Federation (IDF) hat für die Jahreskampagne zum Weltdiabetestag am 14. November 2008 Kinder und Jugendliche mit Diabetes in den Mittelpunkt gestellt. Aus gutem Grund: Typ-1-Diabetes bei Kindern nimmt mit drei bis vier Prozent pro Jahr in Deutschland und vielen anderen Ländern der Welt dramatisch zu. Mitte 2008 wurden neue Daten aus Finnland, dem Land mit der weltweit höchsten Rate an Typ-1-Diabetes, dass diese Zunahme sich über den prognostizierten Rahmen hinaus weiter beschleunigt hat.

Ähnlich Beobachtungen stehen für Deutschland noch aus. Jedoch auch hier nimmt insbesondere der Anteil jüngerer Kinder immer mehr zu. Bereits heute erkranken weltweit mehr als 70.000 Kinder unter 15 Jahren jährlich an der unheilbaren Erkrankung Typ-1-Diabetes. In Deutschland erkranken 13 von 100.000 Kindern im Alter von 0 bis 14 Jahren jedes Jahr neu an Diabetes. Ziel der Kinderdiabeteskampagne 2008/2009 ist zweierlei: die häufigste Stoffwechselerkrankung im Kindesalter bekannt machen und das Auftreten der besonders für Kinder lebensbedrohlichen diabetischen Ketoazidose durch rechtzeitige Erkennung deutlich zu verringern.

Kinder zunehmend von Diabetes betroffen

Durch die Kampagne muss in der Bevölkerung deutlich werden, dass auch Kinder von der Stoffwechselerkrankung betroffen sind. Aber nicht nur Typ-1-Diabetes, sondern auch Typ-2-Diabetes wird in Deutschland durch die Zunahme von Übergewicht und Fehlernährung immer häufiger diagnostiziert. Die Adipositas (krankhaftes Übergewicht, Fettleibigkeit) ist die häufigste chronische Erkrankung im Kindes- und Jugendalter geworden. Insbesondere das Ausmaß an Übergewicht bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen ist massiv angestiegen. Da ein Typ-2-Diabetes mellitus als Folge von Adipositas im Erwachsenenalter sehr häufig auftritt, ist mit einer hohen Zahl zusätzlich an Diabetes erkrankter Jugendlicher mit Typ-2-Diabetes auch in Deutschland zu rechnen.

In den U.S.A. sind bereits je nach geografischer Lokalisation zwischen 8 und 45 Prozent der Diabetesmanifestationen im Kindesalter Typ-2-Diabetes. Eine erste populationsgestützte Schätzung des Typ-2-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland ergibt derzeit eine Inzidenz von zirka 2 pro 100.000. Bei adipösen Jugendlichen tritt in zirka ein bis zwei Prozent ein Typ-2-Diabetes und bei bis zu zehn Prozent eine Störung des Glukosestoffwechsels auf. Demnach erkranken gegenwärtig zirka 200 Kinder im Alter von 12 bis 19 Jahren in Deutschland jährlich an Typ-2-Diabetes. Die Anzahl der in der DPV-Datenbank erfassten Typ-2-Diabetes Neuerkrankungen hat sich in den letzten zehn Jahren verfünffacht. Dennoch bleibt in Europa der Typ-1-Diabetes der weitaus größere Anteil der kindlichen Diabeteserkrankungen und steht somit im Fokus der Bemühungen von Forschung, Prävention und Krankenversorgung in der Kinderdiabetologie.

Rate der Ketoazidose bei Kindern verringern

Das zweite Ziel der Kinder-Diabetes-Kampagne 2008/2009 ist die Verringerung der Rate der diabetischen Ketoazidose. Diese potenziell lebensbedrohliche Blutübersäuerung durch Insulinmangel kann sowohl bei nicht rechtzeitig diagnostiziertem neu aufgetretenem Diabetes wie auch bei nicht ausreichender Behandlung bei bereits bekanntem Diabetes auftreten. Weltweit ist die Ketoazidose bei Kindern als Ursache für eine erhöhte Sterblichkeit identifiziert worden.

Rechtzeitiges Erkennen der typischen Diabetessymptome wie häufiges Wasserlassen, Gewichtsabnahme und großem Durst lassen bei rechtzeitig erfolgter Insulinbehandlung die Entstehung einer Ketoazidose mit Austrocknung, vertiefter Atmung, Erbrechen und Bewusstlosigkeit verhindern. Daher sollte bei Kindern mit diesen Symptomen ein Kinderarzt konsultiert werden und unverzüglich eine Behandlung in einem Kinderkrankenhaus veranlasst werden.

Wichtige Unterschiede zwischen Kinder- und Erwachsenendiabetes

Bei der Behandlung machen die Besonderheiten des Kindes- und Jugendalters eine sehr individualisierte Behandlung erforderlich. So ändert sich die Insulinempfindlichkeit ständig durch Einflüsse des Wachstums und der hormonellen Veränderungen sowie der besonders bei Kleinkindern häufig auftretenden Infektionskrankheiten. Die Unvorhersehbarkeit von körperlicher Aktivität und Nahrungsaufnahme von Kindern machen eine besonders flexible Behandlung erforderlich. Die gesamte Familie und alle Betreuer müssen je nach Alter und Reife des Kindes in die Behandlung eingeweiht werden.

Erforderlich sind unterschiedliche Schulungsangebote (Struktur, Inhalte, didaktisches Konzept) für Vorschulkinder, Grundschulkinder, Jugendliche in der Pubertät und Adoleszenten im Übergang in die internistische Betreuung. Die moderne Diabetesschulung verfolgt das Ziel, die Selbstmanagementfähigkeit der betroffenen Kinder und Jugendlichen sowie ihrer Familien zu fördern. Dabei hat sich eine zu frühe alleinige Verantwortung von Jugendlichen mit Diabetes als ungünstig erwiesen.

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Kontroverse um den Einsatz moderner Therapieverfahren

Auch im Kindes- und Jugendalter werden vermehrt neue Behandlungsverfahren (Einsatz von schnell- und langsamwirksamen Kunstinsulinen [sogenannte Insulinanaloga] oder Pumpentherapie) angewandt. Etwa 12.000 Kinder und Jugendliche verwenden kurzwirksame Insulinanaloga und etwa 30 Prozent der pädiatrischen Patienten langwirksame Insulinanaloga. Die Pumpentherapie kommt der Insulinfreisetzung des Gesunden sehr nahe und ist damit die natürlichste Form der Insulinbehandlung, die heute zur Verfügung steht. Einerseits ist in der Pumpe eine automatische Basalrate einprogrammiert, die individuell dem Tagesrhythmus des Kindes angepasst werden kann. Zusätzlich können Eltern oder bei älteren Kindern die Patienten selber zu jeder Tages- und Nachtzeit die erforderliche Menge kurzwirksames Insulin auf Knopfdruck abgeben, die entsprechend dem aktuellen Blutzucker und der geplanten Nahrungsmenge erforderlich ist.

Mehr als 3.000 pädiatrische Patienten verwenden gegenwärtig diese Therapieform. Seit 2007 besteht zudem die Möglichkeit einer Kombination der Pumpe mit integrierter kontinuierlicher Überwachung der Glucosewerte im Gewebe. Hierbei misst ein subkutan gelegener Sensor die Glukosewerte und überträgt sowohl diese Werte, als auch den Trend (also Anstieg oder Abfall) auf die Anzeige der Insulinpumpe. Die Patienten können so jederzeit ihren aktuellen Gewebezucker an der Pumpe ablesen und werden zusätzlich akustisch bei zu niedrigen oder zu hohen Werten gewarnt. Die Sensordaten können separat von den Pumpendaten ausgelesen und ausgewertet werden. Daraus können vom Arzt differenziertere Rückschlüsse auf die derzeitige Stoffwechsellage gezogen und notwendige Änderungen der Behandlung ersehen werden. Der Einsatz dieses Verfahrens wird gegenwärtig in Studien untersucht.

Am 17. Juli 2008 hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) beauftragt, eine neue Nutzenbewertung zum ursprünglichen Auftrag A05-02 "Kurzwirksame Insulinanaloga zur Behandlung des Diabetes mellitus Typ 1" durchzuführen. Beim Nachfolgeauftrag soll sich die Untersuchung nur auf Kinder und Jugendliche beziehen ("A08-01 Kurzwirksame Insulinanaloga bei Kindern und Jugendlichen mit Diabetes mellitus Typ 1 - Nachfolgeauftrag"). Derzeit wird dieser Auftrag bearbeitet.

In früheren Untersuchungen kam das IQWiG zu dem Schluss, dass der Zusatznutzen durch Insulinanaloga nicht belegt sei. Dies war die Grundlage für den Beschluss des G-BA am 21. Februar 2008, dass kurzwirksame Insulinanaloga zur Behandlung des Diabetes mellitus Typ 1 in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nicht verordnungsfähig sind, solange sie mit Mehrkosten im Vergleich zu kurzwirksamem Humaninsulin verbunden sind. Nicht zuletzt aufgrund der starken Proteste vieler Selbsthilfegruppen, wurde dieser Beschluss vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) nicht uneingeschränkt akzeptiert. Der Verordnungsausschluss sollte nicht für Versicherte bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres gelten.

Gegen dieses Veto des BMG geht der G-BA nun vor und hat deshalb die neue Untersuchung durch das IQWiG beauftragt. Die Arbeitsgemeinschaft Pädiatrische Diabetologie als AG der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) und der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) wird aus diesem Anlass Scoping-Workshops veranstalten, um den dringend notwendigen Informationsaustausch über das wissenschaftliche Vorgehen zur Nutzenbewertung von Arzneimitteln im Kindesalter einzuleiten.

Versorgungssituation von Kindern in Deutschland in einigen Bereichen verbessert

Seit 1993 führt die Arbeitsgemeinschaft Pädiatrische Diabetologie (AGPD) alle fünf Jahre eine Umfrage zur Versorgungssituation im stationären und ambulanten Bereich durch. Erfreulicherweise werden nach der gerade ausgewerteten letzen Umfrage, in der 2.274 Diabetesneuerkrankungen im Jahr bei Kindern erfasst wurden, immer mehr Kinder durch ein kinderdiabetologisches Team mit einem diabetologisch spezialisierten Kinderarzt und einer Diabetesberaterin betreut (43 Prozent der Kliniken und 63 Prozent der Patienten, zum Vergleich 1998 26 Prozent der Kliniken und 46 Prozent der Patienten). Gleichzeitig lässt sich auch in der ambulanten Weiterbehandlung ein Trend zur Zentralisierung erkennen: waren es 1993 noch 74 Prozent der Kinder, die in Zentren mit mehr als 60 Kinderdiabetes-Patienten betreut wurden, waren es jetzt von 14.198 erfassten pädiatrischen Patienten 83 Prozent.

Es zeigen sich aber auch bedenkliche Folgen des Kostendrucks im Gesundheitswesen: hatten 1998 noch 96 Prozent der Kinder mit Diabetes Zugang zu einer Diätberatung oder 81 Prozent zu einem Sozialarbeiter, so waren es bei der letzten Umfrage nur noch 76 beziehungsweise 74 Prozent. Trotz eines Anstiegs spezialisierter Kinderdiabeteseinrichtungen von 52 im Jahre 1998 auf zuletzt 94, zeigt ein Blick auf die Landkarte auch das regionale Ungleichgewicht in der Betreuung in Deutschland mit weniger Kinder-Diabeteszentren in den Flächenstaaten.

Im Jahr 2005 wurde in der Ärztlichen Weiterbildungsordnung für Kinderärzte sowohl eine Zusatzweiterbildung zum Kinderendokrinologen und -diabetologen sowie ausschließlich zum Diabetologen verankert. Es bleibt zu hoffen, dass bundesweit ausreichend Weiterbildungsstellen und Konzepte zur integrierten Versorgung von Kindern nach den Empfehlungen des Disease Management Programms Typ-1-Diabetes geschaffen werden, damit sich die Versorgungssituation von Kindern mit Diabetes weiter verbessert.

Eltern tragen große Verantwortung

Bis weit in das Jugendalter hinein tragen Eltern die Verantwortung für die tägliche Diabetestherapie Ihres Kindes. Dabei müssen sie der schwierigen Doppelaufgabe als liebevolle Erzieher einerseits und konsequente Therapeuten andererseits gerecht werden. Besonders fordernd ist dabei die Situation für Mütter und Väter sehr junger Kinder, die den Sinn der vielen therapeutischen Maßnahmen noch nicht verstehen können und sich ihnen deshalb oft mit aller Kraft widersetzen.

Eine aktuelle Umfrage bei über 500 Familien zur Auswirkung der Diabeteserkrankung eines Kindes zeigte, dass nahezu alle Mütter der jüngeren Kinder und die Hälfte der älteren Kinder ihre Berufstätigkeit nach der Diabetesdiagnose aufgeben oder nicht wieder aufnehmen. Nicht unerwartet berichteten daher 47 Prozent von negativen finanziellen Folgen der Diabeteserkrankung des Kindes für die Familie. Vier Prozent der Mütter gaben an, dass sie aus finanziellen Gründen weiterarbeiten mussten, obwohl nach ihrer Einschätzung die Gesundheit des Kindes dadurch vernachlässigt wird. Besorgniserregend ist der Anteil der Mütter, die in dieser Situation so überfordert sind, dass ihre seelische Gesundheit bedroht ist, vor allem durch depressive Störungen.

Soziale Integration der Kinder von Anfang an fördern

Kinder mit Diabetes sollten wie alle anderen einen Kindergarten oder die Schule besuchen. Zur Information der Erzieher und Lehrer hat die AGPD Informationsbroschüren aufgelegt, die ein gegenseitiges Verständnis und die Abstimmung mit den Betreuern unterstützen sollen. Dem guten Willen der meisten Erzieher und Lehrer steht aber leider bis heute eine völlig unzureichende gesetzliche Regelung der notwendigen Unterstützung der chronisch kranken Kinder in öffentlichen Institutionen gegenüber. Hier besteht dringender Handlungsbedarf.

Fazit

Bildunterschrift: Professor Dr. med. Olga Kordonouri, Kinderkrankenhaus auf der Bult.
Bildquelle: Deutsche Diabetes-Gesellschaft (DDG)

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zuletzt bearbeitet: 07.11.2008 nach oben

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