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Noch geht es nicht ohne die Spritze
Mit Prof. Kiess im Gespräch über Trends der Insulin-Therapie
In immer kürzeren Abständen kommen Neuheiten bei der Insulinbehandlung von Patienten mit Typ-1-Diabetes auf den Markt. Nicht wenige davon lösen unter Experten heftige Debatten aus, vor allem wenn sie bei Kindern angewendet werden sollen. Zu neuesten Entwicklungen äußert sich Prof. Wieland Kiess, Präsident der Deutschen Diabetes-Gesellschaft sowie Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig und Direktor der Universitätsklinik und Poliklinik für Kinder und Jugendliche.
Der Typ-1-Diabetes mellitus ist derzeit noch nicht heilbar. Menschen, deren Bauchspeicheldrüse das für die Glukoseverbrennung notwenige Insulin nicht oder nicht mehr produziert, haben also nach wie vor keine andere Wahl als sich mit lebenslangem Insulin-Konsum einzurichten. Das klingt gerade für Kinder - und nicht wenige der rund 200.000 Typ-1-Diabetiker in Deutschland sind Kinder - deprimierend.
Ich will die Probleme des Alltags mit Diabetes nicht klein reden; fest steht allerdings: Die Krankheit kann heute so gut behandelt werden, dass ein nahezu normaler Stoffwechsel gesichert ist und damit nur wenige Einschränkungen notwendig werden. Folgeerscheinungen der Zuckerkrankheit, die betreffen vor allem die Gefäße, sind auf diesem Wege zu verhindern oder weit hinaus zu schieben.
Was ist da bei der Behandlung von Kindern besonders wichtig?
Bei diesem Patientenkreis kommen wir mit den üblichen zweimaligen Insulingaben pro Tag nicht weit. Hier ist es wichtig, das Hormon häufiger, also etwa viermal täglich, aber in kleineren Dosen zu verabreichen, wodurch ein relativ natürlicher Insulinspiegel erhalten werden kann. Das bedarf dann gleichzeitig einer häufigeren Stoffwechselkontrolle. Man schaut also genauer hin, um schneller und präziser reagieren zu können.
Das klingt nach wesentlich mehr Aufwand. Wie sind die Kinder und Jugendlichen dem gewachsen?
Hier setzen einige Innovationen an, zu denen neue Insulinarten gehören und weiterentwickelte Spritzen, die sogenannten Pens, das sind Stifte, mit denen man unter die Haut spritzen kann. Eine weitere Neuerung, die auch bei uns an der Universitäts-Klinik genutzt wird, sind Insulin-Pumpen. Die trägt der Diabetiker immer bei sich - Kleinkinder beispielsweise in einem winzigen Rucksack - und bei Bedarf wird über eine Kanüle die jeweils erforderliche Insulinmenge in den Körper gepumpt. Das ist die physiologisch optimale Methode, verlangt aber ein hohes Maß an Mitarbeit von den Patienten beziehungsweise ihren Eltern. Die Menüführung des mitgeführten kleinen Computers ist jedoch nicht komplizierter als bei einem Handy. Unter Leitung von Dr. Thomas Kapellen, dem Leiter unserer Diabetes Ambulanz, wurden bislang 25 Kinder und Jugendliche auf diese Verabreichungsform eingestellt. Das sind etwas 10 bis 15 Prozent aller entsprechenden Patienten.
Ich will allerdings auch die Gefahr nicht verschwiegen: Wenn die Kinder Überernährung jederzeit mit der Insulin-Pumpe wieder ausgleichen können, besteht das Risiko, dass sie zu viel essen und dann - unabhängig vom Diabetes - dick werden. Und darin liegt bekanntlich auch ein gesundheitliches Problem.
Nach wie vor können beim Typ-1-Diabetes keine Medikamente mal schnell nebenbei geschluckt werden. Noch immer muss gespritzt werden. Ist die Pille wirklich nicht in Sicht?
Es wird daran gearbeitet. Aber auf absehbare Zeit kommt sie noch nicht zum Einsatz, denn bisher wird das Insulin im Magen-Darm-Trakt abgebaut und gelangt auf diesem Wege nicht ins Blut. Ebenso interessant, aber ebenso unausgereift, ist das Schnupfen oder Inhalieren von Insulin. Allerdings wirken die Schleimhäute der Atmungsorgane von Natur her als Filter. Um dem Stoffwechsel in der erforderlichen Menge zur Verfügung zu stehen, müssen also sehr große Mengen eingeatmet werden. Noch ist nicht klar, ob diese Belastung für den Patienten nicht größer ist als der Einstich.
In letzter Zeit wird viel über die Insulin-Analoga, also über Stoffe, die vom Insulin abgeleitet wurden debattiert. Ist von denen der große Wandel zu erwarten?
Zum Thema Analoga wird tatsächlich leidenschaftlich gestritten. Dass die Pharmaindustrie von ihrem neuen Produkt begeistert ist, scheint klar - es ist teurer als herkömmliches Insulin. Trotzdem: Fakt ist, dass das Wirktempo und die Wirkdauer dieser Stoffe individueller geregelt werden kann. Ob dem Patienten im Alltag daraus mehr Freiheit erwächst, ist noch nicht bewiesen. Unbewiesen ist andererseits auch die Behauptung derer, die von einem neuerlichen "Pharmaskandal" sprechen, weil die Insulin-Analoga angeblich krebsauslösend wirken. Es herrscht hier also noch sehr großer Forschungsbedarf.
Das Interview mit Prof. Wieland Kiess führte Marlis Heinz.
Bildunterschrift: Prof. Wieland Kiess
Bildquelle: Universität Leipzig