Home > Aktuelles > Diabetes-Nachrichten > Archive > 2002 > 020815
Aktion: Wahrheit über Diabetes
Bundesregierung hebt Datenschutz für Diabetiker auf!
Gesundheitsreform will gläserne Patienten
Das Bundesgesundheitsministerium hat gemeinsam mit den gesetzlichen Krankenkassen beschlossen, flächendeckend Disease Management Programme (DMP) für chronisch Kranke einzuführen. Als erstes sind sechs Millionen Diabetiker in Deutschland von der Neuregelung betroffen. Die von den Krankenkassen ausgearbeiteten Programme erfassen die intimsten Daten der Patienten.
Disease Management Programme als Vorwand
Disease Management Programme sind eigentlich anerkannt und sinnvoll. Sie können dazu beitragen, die Betreuung chronisch Kranker zu verbessern. Es kommt aber darauf an, was im jeweiligen DMP drin steht.
Die meisten gesetzlichen Krankenkassen verstehen unter DMP in erster Linie ein neuartiges Überwachungssystem. Ihre Programme beginnen damit, dass die Kranken freiwillig, und möglichst ohne es zu merken, ihr Recht auf Datenschutz aufgeben. Der Gesetzgeber hält die Hand über die Krankenkassen. Bei der Gesundheitsreform durften sie die ausschlaggebenden Rechtsverordnungen für ihre DMPs sogar selbst gestalten.
Ärzte sollen Diabetespatienten ausforschen
Die Ärzte sollen für die Krankenkassen in DMP-Dokumentationsformularen fortlaufend zahlreiche sensible Informationen über Diabetiker zusammentragen. Der Patient weiß nicht, was für einen Vertrag er unterschreibt. Ihm gegenüber wollen die Krankenkassen auch verheimlichen, welche Daten er tatsächlich preisgibt. Dazu könnte gehören, dass er Erektionsstörungen hat oder dass er, aufgrund "Erschwerender Sozialmedizinischer Faktoren" wie "Sozialem Umfeld" oder "Lebensstil" eine "Sozialpädagogische Intervention" nötig hat.
Quelle: Disease-Management, Arzt-Handbuch für Diabetes mellitus, Curaplan AOK, KV Südbad.
Kopfprämie für die Teilnahme an DMP
Einige Krankenkassen haben ausführliche Anleitungen für Ärzte verfasst, wie hartnäckig sie die Patienten zur freiwilligen Teilnahme an ihrem Disease Management Programm überreden sollen. Ärzte, die sich so zu V-Leuten der Kassen machen lassen, erhalten eine Prämie für jeden Diabetiker, den sie dazu bringen, seinen Datenschutz aufzugeben. Für die "Erst-Dokumentation" eines Patienten werden beispielsweise 25 Euro gezahlt, für Folgedokumentationen je 15 Euro.
Kassen locken Patienten mit Preisen
Beispiel BKK Berlin: sie ködert die ersten freiwilligen Teilnehmer an ihrem Programm "MedPlus" mit einem "Dankeschön-Präsent". Der Patient kann zwischen einer Zehnerkarte der Berliner-Bäder-Betriebe, einem Einkaufsgutschein und einer "Kinocard" wählen. Bei einigen Krankenkassen kann der freiwillige DMP-Patient sogar eine Urlaubsreise gewinnen.
Quelle: Schreiben der BKK Berlin an Diabetes-Patienten vom Juni 2002.
Krankenkassen plündern Risikostrukturausgleich (RSA)
Die gesetzlichen Krankenkassen haben die entscheidenden Verordnungen dieses Versuchs einer Gesundheitsreform geprägt. Dabei räumten sie sich das Recht ein, für jeden Versicherten, der sich "freiwillig" zu einem DMP meldet, Geld aus dem Risikostrukturausgleich zu genehmigen. Es geht um insgesamt mehrere Milliarden; Geld, das an anderer Stelle für die Behandlung von Patienten fehlt.
"Niemand sollte den Lockvogelangeboten einzelner Kassen auf den Leim gehen. ... Denn die Kassen sind nur scharf auf die DMP, um Geld aus dem RSA-Pool zu erhalten."
Quelle: Dr. Spies, 1. Vorsitzender Kassenärztliche Vereinigung Hessen, MMW-Fortschritt Medizin Nr. 27-28 / 2002.
Ärzteverbände verweigern "Bespitzelungsauftrag"
Viele Ärzteverbände, darunter die Bundesärztekammer, die Kassenärztliche Vereinigung und ärztliche Fach- und Berufsverbände wehren sich gegen die jetzige Form der Disease Management Programme. Sie sehen, dass dadurch ärztliche Schweigepflicht und Therapiefreiheit abgeschafft werden. Außerdem sei der zusätzliche bürokratische Aufwand der Datenerhebung nicht zumutbar. Dadurch ginge in der Praxis wertvolle Zeit verloren, in der Patienten behandelt werden könnten.
"Information für meine Patienten:
... der neu vorgeschriebene Zwang zur Preisgabe Ihrer Gesundheitsdaten (Arzt-Patienten-Geheimnis zwischen Ihnen und mir) ist nicht mit der Ärzteschaft ... abgestimmt. Diese Daten sollen umfangreich bei den Krankenkassen gesammelt und gespeichert werden. Damit beginnt ein für Sie und mich unüberschaubarer, elektronischer Datenfluss, auf den wir später keinen Einfluss mehr haben, zum Beispiel zur Verhinderung eines Missbrauches. ...
Ich rate Ihnen deshalb von der Einschreibung in ein solches Programm ab."
Quelle: Verband der niedergelassenen Ärzte Deutschlands e.V., Virchow-Bund.
"Die Vertragsärzte wollen nicht als Denunzianten gegenüber ihren Patienten dastehen ... Schon heute lässt sich anhand konkreter Vorgänge erkennen, dass sich die Krankenkassen bei Verfügbarkeit dieser Daten unmittelbar in die Patienten-Arzt-Beziehung einmischen und Wege der direkten Ansprache der Versicherten zum Zwecke der Datengewinnung beschreiten."
Quelle: Kassenärztliche Bundesvereinigung, Stellungnahme zum Referentenentwurf einer 4. Verordnung zur Änderung der Risikostrukturausgleichsverordnung 11.06.2002
Hinweis der DiabSite-Redaktion
Die "Aktion: Wahrheit über Diabetes" wurde vom Berufsverband Deutscher Diabetologen, dem Deutschen Diabetikerbund und dem Verband der Diabetesberatungs- und Schulungsberufe in Deutschland gestartet. Der Initiative können sich weitere Ärzteverbände und Interessengruppen anschließen. Das Informationsprojekt wird durch Spenden finanziert.