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Silvester mit Diabetes

Oder die Kunst am richtigen Rad zu drehen

Das Diabetes-Portal DiabSite im Gespräch mit Heike Recktenwald

Heike Recktenwald Silvester - Dieser letzte Tag des Jahres stellt für Diabetiker eine ganz besondere Herausforderung dar. Zum Jahreswechsel gilt es, Blutzuckerentgleisungen zu vermeiden. Das ist an Silvester recht schwierig, weil an diesem Abend mehr und unregelmäßig gegessen, getrunken und vielleicht auch viel getanzt wird. All dies hat Einfluss auf den Blutzuckerspiegel. Wie Menschen mit Diabetes trotzdem ohne Stoffwechselentgleisungen ins Neue Jahr kommen, erläutert die Oecotrophologin und Diabetesberaterin Heike Recktenwald. Sie arbeitet seit vielen Jahren in der Diabetologie und Ernährungswissenschaft. Das 2008 fürs DiabSite Diabetes-Radio aufgezeichnete Interview steht hier zum Nachlesen bereit.

DiabSite:
Herzlich Willkommen, Frau Recktenwald
Recktenwald:
Vielen Dank, liebe Frau Uphoff, und Hallo an Ihre Hörer und Leser.
DiabSite:
Silvester unterscheidet sich für die meisten stark von ihrem klassischen Alltag. Ultimative Partys mit Freunden, Feuerwerk und unzähligen Drinks stehen vor allem für Jugendliche am letzten Abend des Jahres oft im Vordergrund. Wo lauern da Gefahren für Diabetiker?
Recktenwald:
Silvester ist ein wunderbares Fest. Es macht viel Freude. Es wird gut gegessen und meist sind die Menschen mehr in Bewegung als sonst. Man tanzt das eine oder andere Mal, und in netter Gesellschaft wird schnell mal ein Gläschen mehr getrunken. Diese drei Punkte können bei Menschen mit Diabetes zu Schwierigkeiten im Blutzuckerverlauf führen. Eventuell kommt es zu Über- oder Unterzuckerungen. Daher ist es wichtig, sich die unterschiedlichen Wirkungen des Essens, der Bewegung und des Alkohols bewusst zu machen und im nächsten Schritt zu schauen, wie sich diese drei Punkte unter einen Hut bringen lassen. Je mehr Diabetiker über die physiologischen Abläufe, die Insulin- und Kohlenhydratwirkung wissen und dieses Wissen richtig einsetzten, umso leichter fällt es Ihnen an einem solchen Abend Ihren Blutzucker in der Balance zu halten.
DiabSite:
Wie kann der Einfluss von Essen, Alkohol und Bewegung auf den Stoffwechsel abgeschätzt werden? Gibt es Richtwerte?
Recktenwald:
Bewegung wirkt blutzuckersenkend. Wie stark der Effekt ist, hängt vor allem davon ab, wie lange man sich bewegt. Auch Alkohol kann, je nach Sorte und Menge blutzuckersenkend wirken. Es gibt also gleich zwei Faktoren, die zu einer Unterzuckerung führen können. Im Gegenzug dazu führt das leckere Essen, möglicherweise mit vielen Kohlenhydraten und als längere Menüfolge, oft zu einer Überzuckerung. Daher ist es wichtig zu wissen, wie Insulin und Kohlenhydrate wirken, und an welchem Rad man zur rechten Zeit drehen sollte, um den Blutzucker nicht aus dem Ruder laufen zu lassen.
DiabSite:
Haben Sie ein paar Tipps für die Jüngeren auf Lager, die auf der Party vielleicht nicht das große Buffet haben, sondern höchstens ein paar Snacks - dafür viel Bewegung und viel Hochprozentiges? Woraus sollten sie achten, um die Party auch bis 4 Uhr wacker und ohne Unterzuckerung durchstehen zu können?
Recktenwald:
Das Wichtigste für junge Menschen ist, auch zum Alkohol etwas Kohlenhydrathaltiges zu essen. Beispielsweise können sie beim Brotkorb einen Stopp einlegen, falls es einen gibt, oder auch bei den Chips und Salzstangen! Weiter sollte man sich noch mal bewusst machen, dass viel Bewegung blutzuckersenkend wirkt - auch über viele Stunden hinweg - gerade wenn man den ganzen Abend getanzt hat. Auch hochprozentiger Alkohol in größeren Mengen genossen senkt erst einmal den Blutzucker. Diese Wirkung kann - je nach Alkoholmenge - bis zu zwölf Stunden andauern. Deshalb ist es ein MUSS, vor dem Schlafengehen den Blutzucker zu messen. Für eine unterzuckerungsfreie Nacht sollte ein höherer Zielwert (beispielsweise 120 bis 150 mg/dl) (6,7 bis 8,3 mmol/l) angestrebt werden. Traubenzucker oder Hypohelfer wie Gummibärchen sollten an Silvester immer spontan greifbar sein.
DiabSite:
Wer kräftig gefeiert hat, ist oft sehr müde. Aber es wäre doch ganz wichtig, den Blutzucker vor dem Schlafengehen noch mal zu messen, oder?
Recktenwald:
Das ist sicher sinnvoll. Im Laufe eines Silvesterabends mit den genannten Unsicherheitsfaktoren, die den Blutzuckerverlauf beeinflussen können, sollte der Wert häufiger bestimmt werden. Um sicher zu gehen, dass in der Nacht keine Unterzuckerungen passieren, ist die Messung vor dem Schlafengehen Pflicht - Zumal die Empfindlichkeit für die Symptome einer Hypoglykämie durch Alkoholgenuss sinkt.
DiabSite:
Während die Jugendlichen tanzen und um die Häuser oder von Party zu Party ziehen, feiert die Generation 50+ oder 60+ den Abend meist gemessener. Sie gehen auf einen Ball mit großem Silvestermenü, Wein und Standardtanz. Das klingt deutlich ruhiger: Stellt sich die Frage, ob ein solches Silvester für Diabetiker wirklich unproblematisch ist?
Recktenwald:
Auch bei diesem Szenario muss man einige Punkt ansprechen, die durchaus anders sind als sonst. Bei einer geruhsamen Silvesterfeier im Freundeskreis oder auf einem Ball steht neben der mäßigen Bewegung vor allem der kulinarische Genuss im Mittelpunkt. Wird ein Menü serviert oder ein Buffet angeboten, müssen das Wirkprofil des Bolus-Insulins und die aufgenommene Kohlenhydratmenge über einen langen Zeitraum miteinander in Einklang gebracht werden. Dann ist es oft sinnvoll, die Insulinmenge nicht auf einmal zu spritzen, sondern in kleinere Gaben aufzuteilen. Das beugt Unterzuckerungen vor. Schwierig ist auch das Schätzen der aufgenommen Kohlenhydratmenge. Es empfiehlt sich daher schon vorher probeweise mal Portionen auszuwiegen und sich zu überlegen, wo versteckte Kohlenhydrate enthalten sein könnten - beispielsweise in Soßen oder Dressings. Sicher ist es sinnvoll, häufiger den Blutzucker zu kontrollieren - und natürlich auch vor dem Schlafengehen.
DiabSite:
Und was empfehlen Sie älteren Diabetikern, die noch kein Insulin spritzen, aber Tabletten gegen den hohen Blutzucker bekommen? Sollten die mehr tanzen, wenn das Essen zu verführerisch ist?
Recktenwald:
Jedes Menü/Buffet bietet auch Typ-2- Diabetikern die Möglichkeit Speisen z. B. Salat, Gemüse, Obst auszuwählen, die es ermöglichen, Genuss, Speisenangebot und Blutzuckerwert miteinander zu vereinbaren. Wenn das Angebot allerdings zu verführerisch ist, fällt es oft auch beim mengenmäßigen Verzehr schwer STOP zu sagen. Der Blutzucker steigt dementsprechend an. Hier bietet sich die Möglichkeit der Bewegung an, um den erhöhten Wert beispielsweise durch einen Mitternachtsspaziergang wieder in den normnahen Bereich zu bringen.
DiabSite:
Läuft der Blutzucker am Neujahrstag dann wieder normal, oder können Bewegung und Alkohol sich länger auswirken?
Recktenwald:
Das können sie. Es ist bekannt, dass Alkohol und langfristige Bewegung den Blutzuckerverlauf noch viele Stunden lang beeinflussen. Durch die körperliche Aktivität leeren sich die Glykogenspeicher (Glykogen = körpereigene Speicherform von Zucker) des Muskels, die nach Beendigung der Bewegungsphase wieder vom Körper aufgefüllt werden müssen. Die Gefahr einer Unterzuckerung besteht und sollte bei der Insulinberechnung (Einsparung von Insulin) berücksichtigt oder durch eine zusätzliche Kohlenhydratmahlzeit vermieden werden. Beim Genuss von reichlich Alkohol ist der Mechanismus der Gegenregulation der Leber außer Kraft gesetzt, denn die beschäftigt sich mit dem Alkoholabbau. Daher sind häufigere Blutzuckermessungen auch am nächsten Tag noch angesagt.
DiabSite:
Das Alternativprogramm zu Bar, Party oder Ball findet zu Hause vor dem Fernseher statt. Der Unterschied zum klassischen Alltag besteht dann oft nur in mehr Snacks, längerem Durchhalten und einem kleinen Glas Sekt um Mitternacht, um damit auf das Jahr anzustoßen. Müssen Menschen mit Diabetes in diesem Fall überhaupt etwas berücksichtigen?
Recktenwald:
Ich denke, viele essen an diesem Abend andere Dinge als sonst. Wichtig ist es dann, die Kohlenhydratmengen richtig einzuschätzen und das Insulin entsprechend zu dosieren. Um nicht unkontrolliert Salzgebäck oder ähnliches zu essen, kann es sinnvoll sein, eine bestimmt Menge vorher für sich festzulegen und in einem Schälchen anzurichten. Dies ist übrigens auch eine gute Übung zum besseren Schätzen von Beilagen oder Pasta-Menügänge. Als Vorbereitung auf diesen Abend können zuhause an der Waage Schätzung und berechnete Kohlenhydratmenge im Vergleich transparent gemacht werden. Denn nach meiner Erfahrung ist das "Schätzauge" bei der Kohlenhydratberechnung oft sehr großzügig. Gut zu schätzen ist eine Frage der Übung und Erfahrung.
DiabSite:
Ein Klassiker zu Silvester ist das Fondue, traditionell mit Fleisch und Fisch oder als Käsefondue bestens geeignet, sich in geselliger Runde die Zeit bis Mitternacht zu vertreiben. Sehr schnell hat man da den Überblick über die gegessenen Kohlenhydrate verloren. Wie können Diabetiker ihren Stoffwechsel trotzdem im Griff behalten?
Recktenwald:
Schwierigkeiten bei Fondue oder Raclette machen weniger die Kohlenhydrate als die verzehrten Fett- und Eiweißmengen und das Essen über viele Stunden. Wann ist da der richtige Zeitpunkt für das Bolusinsulin zum Essen. Zudem verzögern Fett und Eiweiß die Kohlenhydrataufnahme. Dadurch kann es erst zu Unter- später zu Überzuckerungen kommen. Doch je mehr ein Diabetiker über diese Zusammenhänge weiß, umso besser kommt er mit besonderen Situationen klar. Deshalb empfehle ich Diabetikern gern, sich aktiv an die Diabetesberatung in der Praxis oder Klinik zu wenden. Persönlicher Einsatz und das Interesse am Verständnis der Hintergründe werden im Alltag belohnt.
DiabSite:
Wir wünschen allen Menschen mit Diabetes - auf der Party, auf dem Ball, vor dem Fernseher oder im gemütlichen Kreis mit Freunden - dass sie ihren Blutzucker im Auge behalten und Unterzuckerungen vermeiden können. Wie gelingt das am besten?
Recktenwald:
Wenn Sie sich das Zusammenspiel von Essen, Bewegung und Alkoholgenuss bewusst machen und häufiger ihren Blutzucker messen.
DiabSite:
Frau Recktenwald, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Bildunterschrift: Heike Recktenwald
Bildquelle: privat

Autor: hu; zuletzt bearbeitet: 29.12.2009, aktualisiert: 30.12.2013 nach oben

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