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Die Eltern sind gefordert

Das Diabetes-Portal DiabSite im Gespräch mit Diplom-Psychologe Béla Bartus

Diplom-Psychologe Béla Bartus Diplom-Psychologe Béla Bartus ist Fachpsychologe Diabetes (DDG). Seit über zehn Jahren arbeitet er als Kinder- und Jugendpsychotherapeut im Olgahospital in Stuttgart. Hier liegen ihm die jungen Diabetikerinnen und Diabetiker am Herzen. Und wann immer möglich, bezieht er die gesamte Familie in die Therapie ein, um zu verhindern, dass die Kindheit seiner kleinen Patienten durch eine verfrühte Disziplinierung zu sehr belastet wird.
Welche psychologischen Faktoren spielen für die normale Entwicklung von Kindern mit Diabetes eine Rolle? Was Eltern und Betreuer von jungen Diabetikern bedenken sollten, erläutert Béla Bartus anlässlich des 1. Deutschen Diabetestages für "Kinder, Jugend, Eltern" in Berlin exklusiv im DiabSite-Interview.

DiabSite:
Herr Bartus, wenn über Kinder mit Diabetes gesprochen wird, geht es oft nur um medizinische Fragen. Lassen Sie uns die psychologischen Aspekte in den Mittelpunkt rücken. Was gibt es in dieser Hinsicht zu beachten?
Bartus:
Um es ganz grundsätzlich zu sagen: Die Behandlung des Diabetes wirkt direkt auf das Verhalten und auf das Erleben der Kinder. Die Anpassung an die Stoffwechselstörung führt dann zu mehr oder weniger gravierenden Änderungen des Verhaltens. Wir wissen alle, wie schwer es fällt, Gewohnheiten zu ändern. Das Problem ist, dass diese Veränderungen manchmal Frustration oder sogar "Leiden" mit sich bringen.
DiabSite:
Welche Verhaltensänderungen meinen Sie?
Bartus:
Zunächst natürlich Ernährung, aber auch Zeitplanung und Disziplin. Gerade hier tun sich Kinder schwer, weil sie sich normalerweise den Luxus leisten können, in einer relativ zeitfreien, spielerischen Welt zu leben. Und nun sollen sie quasi von heute auf morgen lernen, dass ihre kleine Lebenswelt gegen den eigenen Willen vorstrukturiert wird. Das ist aus kindlicher Sicht zunächst kaum zu begreifen, und dann müssen sie es, wenn schon nicht akzeptieren, so doch wenigstens tolerieren. Das ist sehr schwer, denn es spricht ja gegen die Natur der Entwicklungsdynamik. Ein Kind möchte sich nicht einschränken, es möchte frei sein und seine Bedürfnisse ausleben.
DiabSite:
Das kennt wohl jede Mutter, die ihr Kind abends ins Bett bringen will?
Bartus:
So ist es. Das Zähneputzen ist ein ähnliches Beispiel. Immer wenn es um "bedürfnisfremde" Angelegenheiten geht, denen das Kind mehrmals am Tag nachkommen muss, wird es problematisch.
DiabSite:
Was also tun?
Bartus:
Zunächst sind die Eltern gefordert: Sie sollten die Diabetesbehandlung ihres Kindes nicht als Feind ansehen. Und sie müssen sich klar machen, dass diese Behandlung dem Kind primär hilft. Das ist ein wichtiger Punkt. Erst wenn sie das verinnerlicht haben, können sie dem Kind ein Vorbild sein und es motivieren, mitzumachen. Hier hilft neben viel Liebe und Einfühlungsvermögen besonders bei jüngeren Kindern die Ritualisierung der unangenehmen Seiten der Behandlung. Natürlich müssen die Eltern auf ihr Kind eingehen und ihm die Gewöhnungsphase so einfach wie möglich machen. Untersuchungen haben gezeigt, dass viele Kinder auf die Diabetesmanifestation mit Verhaltensauffälligkeiten reagieren.
DiabSite:
Wie äußern sich diese Verhaltensauffälligkeiten?
Bartus:
Manche Kinder ziehen sich zurück, sie wollen nicht mehr raus, sie wollen sich mit niemandem mehr treffen oder nicht mehr in die Schule gehen. Andere werden aggressiv, ungerecht aggressiv, vor allem den Eltern gegenüber. Sie lassen, so zu sagen, ihren Frust an den Eltern aus. Es ist ja immer so, dass wir uns gegenüber den Menschen, die wir am liebsten haben, gerade getrauen ungerecht oder fies zu sein. Genauso ist es bei Kindern mit Ihren Eltern. Ältere Kinder können auch depressiv reagieren. Es gibt Studien, die gezeigt haben, dass in den ersten neun Monaten nach der Manifestation mehr als die Hälfte der Kinder solche Verhaltensauffälligkeiten zeigen. Wichtig ist, dass man dieses besondere Verhalten eben nicht als Störung sieht, sondern als Anpassungsproblem. Wenn diese Anpassungsprobleme überhand nehmen, kann man psychologisch helfen, indem man mit dem Kind zum Beispiel eine Spiel- oder Maltherapie anbietet. Bei älteren Kindern und Jugendlichen helfen oft Beratungen, in denen sie über ihre Situation reden können.
DiabSite:
Jüngere Kinder bekommen die Insulinspritzen oft von ihren Eltern verabreicht. Kann es da zu Problemen kommen, weil das Kind irgendwann den Eindruck bekommt, die eigene Mutter fügt ihm ständig Schmerzen zu?
Bartus:
Ja. Wir haben eine Studie durchgeführt, in der wir Eltern von Vorschulkindern nach den besonders belastenden Bereichen der Diabetesbehandlung gefragt haben. An erster Stelle wurde die Angst vor Unterzuckerungen genannt, weil die jüngeren Kinder die Anzeichen einer Hypoglykämie nicht merken, und sie vor allem nicht mitteilen können. An zweiter Stelle folgte das Ernährungsproblem. Jüngere Kinder haben manchmal ein verzögertes Essverhalten, oder sie essen aus Trotz nichts. Und dann folgte schon das Insulinspritzen, weil bei den Kleinen das grundsätzliche Verständnis für die Notwendigkeit der regelmäßigen Injektionen fehlt. Außerdem, die anfängliche Angst von Kindern vor einer Spritze ist eine natürliche Schutzreaktion! Und selbst manche Schulkinder oder Jugendliche berichten, dass die Injektion - je nach Tagesform - eine mehr oder weniger unangenehme Empfindung sein kann.
DiabSite:
Was können die Eltern in diesem Falle tun?
Bartus:
Sie sollten darauf achten, dass die schwierigen oder unangenehmen Aspekte der Behandlung nicht an einer Person hängen bleiben. Bei jüngeren Kindern, die sich noch nicht selbst spritzen können ist unbedingt Arbeitsteilung angesagt. Auch wenn der Vater unter der Woche wenig Zeit hat, sollte er zumindest am Wochenende das Spritzen und Testen übernehmen. Das ist wichtig, damit das Kind merkt: Aha, nicht die Mama ist die 'Buhfrau'. Es darf weder "Buhmann" noch "Buhfrau" geben. Das Kind muss erkennen, es ist nicht nur die Mama, die es immer piekst. Ich sage immer: "So wie man die Spritzstellen wechselt, sollten man auch die Spritzenden wechseln." Beim Diabetes muss immer alles in Bewegung bleiben, sonst gerät man in einen Teufelskreis: Die Mütter übernehmen viel Verantwortung, weil sie es zeitlich besser einrichten können. Das führt irgendwann dazu, dass sie die Verantwortung nicht mehr abgeben können, oder nicht mehr abgeben wollen. Weil sie in dieser Beziehung mit der Zeit natürlich auch niemandem mehr etwas zutrauen. Und dann sitzen sie plötzlich in einer selbst gebastelten Falle, die sie in ihrer Aktivität beeinträchtigt.
DiabSite:
Das klingt, als müsse nicht nur das betroffene Kind psychologisch betreut werden, sondern die ganze Familie?
Bartus:
Das sehe ich auch so. Wenn ein Kind Verhaltensauffälligkeiten im Zusammenhang mit der Diabetesbehandlung zeigt, ist es falsch, nur das Kind in die Beratung zu bringen. Es sollte dann immer die ganze Familiensituation ins Auge gefasst werden. Es ist mittlerweile erwiesen: Wenn es in der Familie Probleme gibt, verschlechtern sich beim Kind die HbA1c-Werte (Langzeitblutzuckerwerte). Wir kennen ein ähnliches Phänomen aus der Schule: Wenn die Familie in besondere Schwierigkeiten gerät, lassen die Kinder in der Schule fast immer nach und bringen schlechtere Noten nach Hause. So ist es auch mit der Diabeteseinstellung bei Kindern. Plötzlich gehen die HbA1c-Werte hoch, und man weiß nicht warum. Deshalb ist es wichtig, das die Kinder nicht alleine als "Indexpatienten" betrachtet werden, sondern die ganze Familie einbezogen wird.
DiabSite:
Familien mit mehreren Kindern berichten oft von Eifersüchteleien untereinander, wenn ein Kind Diabetes hat und das andere nicht. Kann das sein?
Bartus:
Wir können davon ausgehen, dass die Geschwister von Kindern mit Diabetes in vielen Familie mehr oder weniger Probleme bekommen. Es gibt Familien, in denen sich die Geschwisterkinder relativ gut daran gewöhnen und Familien, in denen das nicht so ist. Es kommt darauf an, wie sehr man in der Familie den Diabetes in den Mittelpunkt stellt. Es gibt da kein Patentrezept. Wichtig ist, dass man von Kindern unter 14 Jahren nicht erwartet, dass sie das intellektuell einsehen. Wenn Eltern zum gesunden Geschwister sagen "Sei doch froh, du hast keinen Diabetes.", nützt das überhaupt nichts. Das Geschwisterkind muss erleben, dass es genauso wichtig ist wie der Bruder oder die Schwester mit Diabetes. Und die Eltern müssen ihm emotionale Erlebnisse schaffen. Möglichst alle paar Wochen mit dem Kind ohne Diabetes ganz alleine etwas unternehmen. Das ist ein Erlebnis auf das die Kinder zurückgreifen können. Ein emotionales Event. Worte sind zu theoretisch und bringen da viel weniger. Man darf ja nicht vergessen, dass Kinder letzten Endes von ihrer Entwicklung her kleine Egoisten sind. Nicht im Sinne wie wir Erwachsene Egoismus verstehen, sondern ein kindlicher Egoismus, der ja eigentlich eine positive Funktion hat.
DiabSite:
Eine Mutter hat uns folgende Situation beschrieben: Sie misst den Blutzucker bei ihrem Sohn, der Diabetes hat, aber auch bei seinem gesunden Bruder, aus Angst, er könne auch Diabetes bekommen. Manchmal sei das gesunde Kind eifersüchtig, weil sein Bruder mehr Aufmerksamkeit bekomme, aber nach dem Blutzuckertest sage es jedes Mal, wie froh es ist, keinen Diabetes zu haben.
Bartus:
Das ist ein gutes Beispiel. Die Geschwisterkinder picken sich immer nur die positiven Seiten heraus, die größere Zuwendung oder einfach die besondere Stellung, die Kinder mit Diabetes in einer Familie innehaben können. Das Pieksen und die Besuche in der Klinik wollen sie dann nicht. Insofern ist das von Ihnen beschriebene Verhalten nicht verkehrt, weil das Kind erfährt, dass auch die unangenehmen Bereiche dazugehören. Man muss aber auch sagen, dass die Geschwisterkinder so in einen emotionalen Konflikt gebracht werden können. In Umfragen berichten Geschwisterkinder, die als Erwachsene befragt wurden, von einem Gefühl der Machtlosigkeit. Sie durften keine Wut oder keinen Ärger über den Bruder oder die Schwester zeigen, weil der oder die "ja ach so krank ist". Und sie mussten immer Verständnis aufbringen. Das war für viele, auf lange Zeit gesehen, einfach frustrierend.
DiabSite:
Ist es ratsam ältere Geschwisterkinder in die Diabetestherapie einzubeziehen? Sollten sie zum Beispiel den Blutzucker messen oder spritzen?
Bartus:
Davon rate ich eher ab. Man sollte aufpassen, dass die Geschwister nicht mit einer zu großen Verantwortung überfordert werden. Auch kann sich das auf das spätere Verhältnis der Geschwister untereinander auswirken.
DiabSite:
Was ist Ihrer Meinung nach das Wichtigste, was die Eltern eines Kindes mit Diabetes berücksichtigen sollten?
Bartus:
Die Eltern sollten dem Kind vor allem die Kindheit erhalten. Sie sollten ihm nicht zu früh zu viel Verantwortung übertragen. Es ist nicht so wichtig, ob das Kind mit sechs oder acht Jahren schon spritzen kann, es wird lange genug spritzen müssen. Es ist viel wichtiger, dass die Kindheitsphase gut durchlebt oder ausgelebt wird. Das ist meine zentrale Botschaft. Man sollte nicht zu stark auf eine frühe Selbständigkeit in der Diabetesbehandlung drängen. Das war eine Zeit lang sehr in Mode, ist es vielleicht mancherorts heute noch. Ich denke aber, man sollte schauen, dass es zu einer natürlichen Übernahme der Verantwortung kommt. Die Eltern sollten dies anbieten, immer wieder und auf jeder neuen Entwicklungsstufe etwas mehr. Aber auf keinen Fall dazu drängen. Wenn ein Kind relativ früh spritzen und testen kann, heißt das noch lange nicht, das es den Diabetes gut bewältigt. Das mag nach außen so scheinen, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass Kinder die zu früh zu viel Verantwortung übernahmen und auch dabei eine gute Diabeteseinstellung hatten, über kurz oder lang in eine fürchterliche Rebellionsphase gekommen sind, was die Bemühungen dann auf lange Zeit wieder zunichte gemacht hat.
DiabSite:
Herr Bartus, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Autor: hu; zuletzt bearbeitet: 19.01.2002 nach oben

Bildunterschrift: Diplom-Psychologe Béla Bartus
Bildquelle: privat

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