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Falscher Neujahrsempfang

November 2004, das Jahresende naht und als 1. Vorsitzender der Diabetiker-Selbsthilfegruppe Kreis Sigmaringen e.V. habe ich vor Weihnachten noch viel zu tun. Die Post stapelt sich. Als ich sie endlich durchsehe, finde ich darunter eine Einladung vom Bürgermeister. Meine Frau und ich werden am 24. Januar 2005 zu einem Empfang im Rathaus gebeten.

Das ist nicht so ungewöhnlich, denn hin und wieder lädt unser Bürgermeister die ehrenamtlich Tätigen im Ort mit ihren Ehepartnern zum Neujahrsempfang ein. "Ist ja nett, dass wir auch wieder einmal dran sind", denke ich, und gebe meiner Frau, als Schriftführerin des Vereins ist sie für meine Termine zuständig, das Schreiben.

Im Dezember werde ich stutzig, das Bürgermeisteramt telefoniert einige Male mit meiner Frau: Warum sprechen die mit ihr? Schließlich bin ich der Vorsitzende des Vereins. Doch Vereinsarbeit und Weihnachtsvorbereitungen lassen mir keine Zeit der Sache nachzugehen. Das neue Jahr kommt, und ich entdecke den Termin im Kalender, den ich längst vergessen hätte, stünde mir meine zuverlässige und ordentliche Frau nicht liebevoll zur Seite.

24. Januar: Bereits am frühen Morgen probiere ich den Anzug für den Neujahrsempfang an. Alles in Ordnung. Auch die Krawatte passt. Im Vorbeigehen erklärt meine Frau, dass wir dieses Jahr schon um 16.45 Uhr im Rathaus sein sollen. Dann kann ich ja noch ins Büro gehen, ein paar Dinge erledigen und mich anschließend umziehen. Kurz nach 16.30 Uhr sind meine Frau und ich startbereit. Der 10-minütige Fußweg zum Rathaus reicht zum Abschalten. Wir freuen uns auf die Feier.

Im Bürgermeisteramt angekommen gehen wir direkt zum Aufzug. Die Tür ist verschlossen. Komisch - keine Menschenseele zu sehen, und die Tür zum Treppenaufgang ist auch zu. Sind wir doch zu früh? Von oben hören wir Stimmen und Gelächter. Offensichtlich hat sich jemand mit uns einen Scherz erlaubt. Wie kommen wir jetzt in den Sitzungssaal?

Ich schaue mich suchend um, entdecke zwei Damen an der Information und frage sie nach dem Weg zum Saal. Eine von ihnen öffnet uns merkwürdig lächelnd die Aufzugtür. "Sind wir zu spät?", erkundige ich mich unsicher. Keine Antwort - nur ein noch verschmitzteres Lächeln. Die Tür des Aufzugs schließt, und als sie wieder aufgeht, sehe ich am Ende des Ganges viele Menschen stehen, die sich laut unterhalten und lachen. Die Stimmung ist offensichtlich gut.

Nach einigen Schritten in Richtung der fröhlichen Gesellschaft kommt mir mein 2-jähriger Enkel entgegen. "Was macht der denn hier?", frage ich mich verwundert. Noch stutziger werde ich beim Anblick all der bekannten Gesichter aus der Diabetiker-Selbsthilfegruppe Kreis Sigmaringen. Mein Herz beginnt zu klopfen. Wie ein Blitz schießt plötzlich jede Ungereimtheit durch meinen Kopf, die mit diesem Treffen in Verbindung steht. Was wollte das Bürgermeisteramt von meiner Frau? Weshalb beginnt der diesjährige Neujahrsempfang so früh? Wer hat die Türen verschlossen? Warum lächelte die Empfangsdame gerade so seltsam?

Weiter komme ich nicht, denn in diesem Augenblick ergreift die Sekretärin des Bürgermeisters meinen Arm und geleitete mich direkt in den Sitzungssaal. Beim Eintritt sehe ich nur zwei Personen: Bürgermeister Wolfgang Gerstner und Tanja Gönner, die Sozialministerin von Baden Württemberg. Beide begrüßen mich herzlich, und mit schwachen Knien setze ich mich nieder. Der Saal füllt sich und Bürgermeister Gerster ergreift das Wort.

Während er die Anwesenden begrüßt, meine ich noch im falschen Film zu sein. Als er schließlich zum Grund für die heutige Einladung kommt, horche ich auf. "Sie, lieber Herr Schroth sind heute unser Ehrengast. Frau Sozialministerin Gönner wird ihnen im Auftrag von Bundespräsident Horst Köhler das Bundesverdienstkreuz verleihen.", verkündet der Bürgermeister würdevoll. Wieder setzt mein Gehirn aus. Die Zeitung schreibt später: "Da verschlug es Volker Schroth, der seit 1986 Vorsitzender der Diabetiker-Selbsthilfegruppe im Kreis Sigmaringen ist und diese Einrichtung unter seiner Leitung mit 350 Mitgliedern zu einer der größten Einzelgruppen in ganz Deutschland geführt hat, für kurze Zeit die Sprache. Alle haben sie von der hohen Auszeichnung gewusst, seine Familie, seine Freunde und Mitstreiter innerhalb der Selbsthilfegruppe - nur er nicht. Unter dem Vorwand, zu einem Neujahrsempfang geladen zu sein, wurde er in den neuen Sitzungssaal des Sigmaringer Rathauses gelockt."

Während der Laudatio des Bürgermeisters hatte ich mich einigermaßen fassen können. Jetzt vernahm ich die Worte der Sozialministerin. "Die Philosophie der Selbsthilfe, das gemeinsame Schicksal aktiv zu meistern und Neuerkrankten Wege zur Bewältigung einer durch eine schwere Erkrankung gekennzeichneten Lebenssituation aufzuzeigen, lässt sich weder durch staatliche noch durch hauptamtliche Hilfe allein erbringen. Was der Betroffene, seine Familie und die Angehörigen in der neuen Lebenssituation benötigen, ist Zuwendung. Volker Schroth verkörpert dies in vorbildlicher Weise." Sozialministerin Tanja Gönner händigt mir den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland aus, und ich kann mich nur gerührt für die hohe Auszeichnung bedanken.

Anschließend lud ich alle zum Feiern ein. Ein gelungener Abend - aber wahrlich ein "falscher Neujahrsempfang"!

Volker Schroth
DDB-Selbsthilfegruppenleiter
Kreis Sigmaringen

zuletzt bearbeitet: 18.04.2006 nach oben

Herzlichen Dank für Ihre Diab-Story und die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung!

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