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Kindheit mit Diabetes

Welche Aufgaben müssen Kinder und Eltern lösen?

Ein Vortrag im Rahmen des 3. Familien-Schulungswochenendes der Berliner Fördergemeinschaft Junger Diabetiker (BFJD), gehalten am 4. Oktober 2003, beleuchtet die unterschiedlichen Perspektiven von Kindern und Eltern auf die Diabeteserkrankung. Im Mittelpunkt steht die Gratwanderung zwischen kind- und diabetesgerechter Erziehung. Die Referentin und DiabSite-Initiatorin, Helga Uphoff (45), ist selbst seit 1969 Diabetikerin.

Kinder mit Typ-1-Diabetes können heute gut und weitgehend "normal" leben. Heute noch viel besser als vor rund 35 Jahren. Aber nichts und niemand kann eine funktionierende Bauchspeicheldrüse toppen! Nichts und niemand ist so perfekt wie die reibungslos arbeitende "Maschine" Mensch! Der Versuch, die Natur nachzuahmen, erfordert Veränderungen im Alltag.

Gespräche mit Kindern und Eltern haben gezeigt, dass beide die elterliche Unterstützung im Umgang mit dem Diabetes recht unterschiedlich beurteilen. Während mir Eltern stolz berichten: "Unser Kind ist sehr selbständig und macht das alles schon alleine", erzählt mir besagtes Kind: "Meine Eltern nerven mit ihrer Fürsorge und der ewigen Fragerei nach den Blutzuckerwerten!".

Diagnose: Diabetes mellitus

Schock - Hilflosigkeit - Bestürzung, das sind meist die ersten Gefühle der Eltern. Aber erinnern Sie sich noch, wie Ihr Kind auf die Diagnose reagiert hat? Können die Eltern das in dieser Situation überhaupt wahrnehmen, oder haben Sie Ihr Kind später einmal danach gefragt?

Für mich hatte der Diabetes erst einmal nichts Schlimmes. Ich konnte mir die Konsequenzen gar nicht vorstellen und ging damit unbekümmert um, wie Kinder das oft tun. Im Gegenteil, mein erster Krankenhausaufenthalt war insgesamt ein spannendes Erlebnis. Tatsächlich habe ich - und das ist sicherlich individuell sehr unterschiedlich - meinen Diabetes als Kind und Teenager dazu "missbraucht", mich interessant zu machen: Ich informierte alle Menschen in der Umgebung über den Diabetes, erklärte ihnen den Unterschied zwischen Typ-1- und Typ-2-Diabetes - ob sie es hören wollten oder nicht. Und gerne demonstrierte ich meinen Mut, indem ich zeigte, dass mir das Spritzen mit den damals langen Nadeln nichts ausmachte.

Doch viele Kinder reagieren anders: Manche weinen tagelang oder werden ungewöhnlich still und nachdenklich, weil die Bestürzung der Eltern bzw. anderer Erwachsener sie verunsichert. Viele Kinder wollen mit ihrem Diabetes nicht in den Vordergrund treten - keine Sonderrolle spielen, die vor allem in Schule oder Clique zu Problemen führen kann. Sie wollen einfach in Ruhe gelassen werden!

Das ist individuell sehr unterschiedlich.

Diabetes in der Schule

Für den Umgang mit dem Diabetes in der Schule rücken für Eltern und Kindern vor allem folgende Aspekte ins Blickfeld: Wer informiert die Lehrer? Wissen die Mitschüler von der Erkrankung? Kommt eine Diabetesberaterin in die Klasse? Versteckt das Kind die Krankheit oder hält es Vorträge, beispielsweise im Biologieunterricht?

Ich habe die Lehrer selbst informiert. Und natürlich wussten meine Mitschüler vom Diabetes, aber die Geschichte hat sie herzlich wenig interessiert. Einen Vortrag im Unterricht habe ich nicht gehalten, obwohl ich so ein Angebot der Biologielehrerin gewiss begrüßt hätte. Doch Schülervorträge über Diabetes von Betroffenen sind ein zweischneidiges Schwert. Mitschüler könnten neidisch auf die Sonderrolle des Diabetikers werden.

Erst kürzlich berichtete mir ein Junge, dass er nach dem Schulwechsel seine Mitschüler, mit Ausnahme von zwei guten Freunden, nicht über seine Diabeteserkrankung informiert habe. "Die treten sonst absichtlich gegen meine Schultasche, um das teure Equipment zu zerstören." Hier treten die Mitschüler ganz offensichtlich gegen das Besondere. Gerät ein Kind in der Klasse in eine Sonderrolle, kann die Hierarchie der Gruppe empfindlich gestört werden.

Kinder mit Diabetes sollten eher nicht zu Exoten werden. Und auch deshalb sind Wochenenden wie dieses für junge Diabetiker von unschätzbarem Wert. Hier ist der Diabetes die Normalität und Kinder, die vorm Abendbrot nicht den Blutzucker messen, sind die "Exoten". Gleichzeitig lernen Diabetiker hier ganz nebenbei voneinander Dinge, die ihnen Eltern und Diabetesberaterinnen hundertmal erfolglos vorschlagen.

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Kompensation und Sanktionen

Persönlich habe ich viele Jahre lang geglaubt, den "Defekt" Diabetes kompensieren zu müssen. Wenigstens im Sport oder in Englisch müsse ich besser sein als andere. Vielleicht, ich weiß es nicht mehr genau, haben meine Eltern das in Nebensätzen auch vermittelt.

Manchmal muss ich mir und anderen auch heute noch beweisen, dass ich genauso leistungsfähig bin wie Nicht-Diabetiker. Und das geht anderen offensichtlich ähnlich. Ein Marathon-Läufer gestand im Interview: "Es ist schon ein gutes Gefühl, wenn man ein paar Gesunde hinter sich lässt!".

Dabei sollte eigentlich allen klar sein, dass Kinder und auch Erwachsene mit Diabetes keine Behinderung haben, die sie grundsätzlich "schlechter" sein lässt als Nicht-Diabetiker. Eine Kompensation ist daher überflüssig. Versuchen Sie doch einmal, Ansätze zur Kompensation bei sich und Ihren Kindern zu finden.

Auch positive oder negative Sanktionen, beispielsweise Geschenke bei guten, heftige Ermahnungen bei schlechten Blutzuckerwerten, sind meiner Ansicht nach fragwürdig. Gerade bei Kindern und Jugendlichen wirken sich viele Faktoren (Wachstumshormone, unregelmäßige körperliche Aktivitäten und die Hormonumstellung in der Pubertät) auf den Blutzuckerspiegel aus und sind von den jungen Diabetikern nicht zu beeinflussen.

Dennoch ist die Sorge der Eltern, vor allem ihre Angst vor Unterzuckerungen, zu verstehen. Leider führen diese bei Kindern häufiger zu Bewusstlosigkeit und Krämpfen. Und wer sein Kind gesehen hat, wie es zuckend wie bei einem epileptischen Anfall am Boden liegt, der möchte das nie wieder erleben.

Um derartige Stoffwechselentgleisungen zu reduzieren, sind häufige Blutzuckerkontrollen und eine gewisse Disziplin bei der Berechnung der Nahrungsmittel erforderlich. Doch motiviert die Warnung vor Spätkomplikationen Kinder wirklich zur Vermeidung von Unter- und Überzuckerungen? Ich reagiere eher auf eine positive Motivation. Wenn mir jemand erklärt, warum die Glättung des Blutzuckerspiegels mein aktuelles Wohlbefinden steigert, werde ich hellhörig. Vielleicht besprechen Sie mit Ihren Kindern, wie extreme Stoffwechselschwankungen mit geringem Aufwand zu vermeiden sind und warum sie sich dann hier und heute besser fühlen.

Eltern, die stolz auf die gute Diabeteseinstellung ihrer Kinder sind, vermitteln mir gelegentlich das Gefühl, dass die Blutzuckerwerte für sie wichtiger sind als die vielen anderen Facetten ihres Kindes. Dennoch kann ich die Eltern verstehen, weil es gewiss nicht leicht ist, immer dem Diabetes Rechnung zu tragen und gleichzeitig daran zu denken, dass ihr Kind aus viel mehr als Diabetes besteht. Es hat Wünsche, Sorgen, muss gut in der Schule sein und früher oder später noch die schwere Zeit der Pubertät überstehen.

Schlaumeier mischen sich ein

Apropos Pubertät. Ich war gerade 15 und schwärmte für einen Jungen aus der Oberstufe. Gerd war einfach super, sah gut aus und lächelte wunderbar! Und dann lud er mich zur Party ein. Ich war schrecklich aufgeregt und fragte mich nur noch: Ist der Pickel abgeheilt? Sehe ich gut aus? Wie schinde ich bei seinen Eltern Eindruck? Auf der Party gab es Nudelsalat, Würstchen und andere Leckereien. Als ich spritzen musste (Selbsttesten war damals noch nicht möglich) fragte die Mutter meiner Jugendliebe unvermittelt: "Sie wollen doch wohl später keine Kinder kriegen, oder? Diabetes ist eine Erbkrankheit!".

Omas, Tanten und andere "Schlaumeier" fragen manchmal ohne die geringsten Kenntnisse von einer intensivierten Insulin-Therapie: "Darfst du denn das überhaupt essen, dass ist doch normaler Kuchen?". Oder Kinder hänseln Diabetiker und nennen sie "Zuckerfresser". Wie gehen Eltern und vor allem junge Diabetiker damit um? Viele klären die "Schlaumeier" auf, erzählen ihnen, dass Diabetiker heute Süßigkeiten und Kuchen mit Zucker essen und mit Insulin abdecken können. Das gut informierte Kind wird den hänselnden Kameraden ignorieren oder ihm mitteilen, dass der Typ-1-Diabetes nicht vom Zuckeressen kommt. Derartige Rektionen sind jedoch nur möglich, wenn beide, Kinder und Eltern, möglichst viel über den Diabetes wissen.

Wissen schafft Selbstvertrauen und Souveränität! Hätte ich der Mutter meiner Jugendliebe sagen können, dass der Typ-1-Diabetes nur eine Vererbungsrate von ca. 2-4 Prozent hat, hätte mich ihre Aussage nicht so aus der Fassung gebracht.

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Der Diabetes oder ich - was ist wichtiger?

Eine gute Diabeteseinstellung ist zweifellos wichtig. Doch welche Rolle darf der Diabetes im Alltag der Familie einnehmen? Wenn die Diabeteserkrankung zu sehr in den Mittelpunkt rückt, vergessen wir leicht, dass der Diabetes längst nicht alles ist!

Manchmal denke ich, es war ein Glück, dass Diabetiker früher nicht selbst testen konnten. Meine Eltern fragten nachmittags noch: "Wie war es in der Schule, gab es etwas Spannendes?" und nicht "Wie waren die Blutzuckerwerte?". Heute berichten Kinder, dass dies meist die erste Frage der Eltern sei. Oft haben sie dann das Gefühl, der Diabetes sei wichtiger als sie selbst.

Es ist bestimmt nicht einfach, hier den goldenen Mittelweg zu finden. Natürlich müssen Eltern den Diabetes im Auge behalten. Aber für Kinder sind Schule, Hobbys und Freunde viel wichtiger. Ich denke, es lohnt sich ein Versuch, diese Tatsache zu berücksichtigen und den Kindern ihre Kindheit zu gönnen. Nicht dass Eltern irgendwann erkennen müssen: "Die Werte sind okay, aber dem Kind geht es schlecht!"

Stoffwechselentgleisungen

Zu hohe oder niedrige Blutzuckerwerte wird es immer wieder geben. Selbst mit den besten Hilfsmitteln können wir die Bauchspeicheldrüse nicht perfekt nachahmen. Dramatisch sind vor allem Unterzuckerungen - Zustände, die Nicht-Diabetikern nur schwer zu beschreiben sind und darüber hinaus in vielen Variationen vorkommen. Sie können Verwirrungszustände bis hin zu Halluzinationen hervorrufen.

Was passiert eigentlich bei einer Unterzuckerung? Der Körper schüttet das Stresshormon Adrenalin aus, wodurch Energie- bzw. Zuckerreserven aktiviert werden. Eine Freisetzung von Adrenalin ist für Stress-Situationen typisch. Daher lässt sich eine Unterzuckerung am ehesten mit dem Moment vergleichen, in dem Sie gerade mit dem Auto um Haaresbreite an einem Kind vorbei gefahren sind. Der Schreck sitzt Ihnen in den Knochen, der Kopf ist leer und Sie fahren an den Straßenrand.

Fragt ein Polizist Sie jetzt nach Ihrem Namen, können Sie vielleicht nicht antworten. Fordert er Sie hingegen nachdrücklich auf, den Führerschein zu zeigen, ziehen Sie diesen automatisch aus der Tasche. In der Fachliteratur wird die "väterliche Autorität", die in einer klaren Anweisung zum Ausdruck kommt, für den Umgang mit Menschen, die unter Schock stehen, häufig empfohlen.

Ich habe schon diverse Hypoglykämien mit unterschiedlichen Folgen erlebt. Einmal räumte ich meinen Vorrat an Süßigkeiten auf, statt etwas zu essen. Ein anderes Mal sah ich den leicht bewölkten Himmel bunt schimmern und die Menschen hatten merkwürdig gefärbte Haare. Oft fühle ich mich bei Unterzuckerungen unsicher. Wenn mich dann jemand fragt, ob es mir nicht gut gehe, reagiere ich oft aggressiv und unhöflich, weil ich in dieser Situation eine Frage nicht beantworten kann.

Ein Vater berichtete kürzlich: "Bei einer Unterzuckerung frage ich mein Kind, ob es Gummibärchen oder Apfelsaft will". Mich persönlich würde diese Frage vollkommen überfordern. Ich brauche bei einer Hypoglykämie die väterliche Autorität: "Hier iss/trink!". Vielleicht fragen Sie Ihr Kind einmal in einem ruhigen Moment, welche Reaktion ihm bei Unterzuckerungen lieb wäre.

Fazit

Vergessene Messungen oder Spritzen, falsche Berechnungen des Essens und auch, dass uns Diabetikern manchmal alles egal ist, gehören zur Normalität. Sie kennen das: Regelmäßiges Zähneputzen ist für Sie selbstverständlich, doch nach der tollen Party zum runden Geburtstag fallen Sie direkt ins Bett!

Kinder erleben täglich viele solcher Ausnahmesituationen. Ihr Leben ist noch nicht "eingefahren" und steckt voller Überraschungen. Da wird der Diabetes oft einfach vergessen. Und, wie bereits erwähnt, nichts, wirklich nichts und niemand, toppt die funktionierende Bauchspeicheldrüse.

Es ist meine feste Überzeugung, dass der Diabetes bei Kindern und Jugendlichen für die Eltern oft schwerer ist als für die jungen Diabetiker selbst. Vielleicht ist die Situation ähnlich wie die von werdenden Vätern, die bei der Entbindung im Kreißsaal anwesend sind. Sie stehen daneben und können nur wenig tun.

Die Schatzmeisterin der Berliner Fördergemeinschaft Junger Diabetiker (BFJD), Gaby Kohlos, hat für DiabSite einmal sehr eindrucksvoll die Gratwanderung beschrieben, die der Diabetes für Eltern und Kinder bedeutet: "die Sprösslinge so aufwachsen zu lassen wie stoffwechselgesunde Kinder und gleichzeitig dem Diabetes Rechnung zu tragen."
Ich hoffe, dass meine Ausführungen dazu beitragen, diesen Balanceakt noch bewusster und besser zu meistern.

Autor: hu; zuletzt bearbeitet: 10.10.2003, zuletzt aktualisiert 06.04.2015 nach oben

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