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Was wird aus der Blutzucker-Selbstmessung bei Typ-2-Diabetes?

aus: Diabetes aktuell, Ausgabe 2/2011, Seite 64-65

Prof. Peter Bottermann
Prof. Oliver Schnell

Das IQWiG hatte in seinem Abschlussbericht vom 14. Dezember 2009 das Urteil gefällt, dass es "weder für die Blutzucker-Selbstmessung noch für die Urinzucker-Selbstmessung einen Beleg des Nutzens bei Patienten mit Typ-2-Diabetes gibt, die nicht mit Insulin behandelt werden … und dass es aus den epidemiologischen Studien zur Thematik keinen Nachweis einer Assoziation der Blut- oder Urinzucker-Selbstmessung mit Morbidität und Mortalität gab".
In seiner Sitzung am 17. März 2011 hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) auf der Basis dieses Urteils den Beschluss gefasst, dass, ausgenommen von definierten Situationen, Harn- und Blutzuckerteststreifen bei nicht mit Insulin behandelten Patienten mit Typ-2-Diabetes nicht mehr zu Lasten der Gesetzlichen Krankenkassen verordnet werden dürfen.
Darüber sprach Günther Buck aus der Redaktion von "Diabetes aktuell" mit Professor Oliver Schnell von der Forschergruppe Diabetes am Helmholz-Zentrum in München.

Diabetes aktuell:
Professor Schnell, bedeutet dieser Beschluss des G-BA das sofortige "Aus" für die routinemäßige Blutzucker-Selbstmessung bei Patienten mit Typ-2-Diabetes?
Schnell:
Dieser Beschluss betrifft ausschließlich Typ-2-Diabetiker, die nicht mit Insulin behandelt werden. Menschen mit Diabetes, die mit Insulin behandelt werden, berührt er nicht. Und zunächst einmal ändert sich gar nichts. Ärzte können die Rezepte für Teststreifen auch für nicht mit Insulin behandelte Patienten erst einmal wie bisher weiter ausstellen. Der Beschluss des G-BA wird jetzt zunächst vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) geprüft. Das Ergebnis muss abgewartet werden, denn wir haben in der Vergangenheit gerade in der Diabetologie durchaus erlebt, dass Beschlüsse des G-BA vom Ministerium zu Gunsten einer Erstattung modifiziert worden sind.
Eine Verordnung wird erst dann wirksam, wenn das BMG sie nicht beanstandet hat und wenn sie im Bundesanzeiger veröffentlicht worden ist. Wir gehen derzeit davon aus, dass dies nicht vor dem 1. Oktober diesen Jahres der Fall sein wird.
Diabetes aktuell:
Ich kann also festhalten, dass es weder für Ärzte noch für die betroffenen Patienten einen Anlass für übereilte Reaktionen gibt. Erst einmal läuft alles weiter wie bisher.
Sollte der Beschluss des G-BA aber bestehen bleiben, welche Ausnahmen für nicht mit Insulin behandelte Patienten werden dann zugelassen sein?
Schnell:
Sollte der Beschluss unverändert im Bundesanzeiger veröffentlicht werden, ändert sich die Situation grundlegend. Denn dann bekommen per se Typ-2-Patienten ohne Insulintherapie Teststreifen von der Gesetzlichen Krankenversicherung nicht mehr erstattet. Ausgenommen davon sind Patienten mit instabiler Stoffwechsellage. Für diese gibt es aber keine abschließende Definition. Laut dem Beschluss des G-BA liegt eine instabile Stoffwechsellage z. B. bei passageren oder interkurrenten Erkrankungen vor, die unabhängig vom Diabetes auftreten können, wie beispielsweise fieberhafte oder Magen-Darm-Infekte. Auch Operationen und traumatische Unfälle können hier eine Rolle spielen. Weiter genannt sind Behandlungen mit oralen Antidiabetika, die zu einem erhöhten Hypoglykämie-Risiko führen, vor allem bei der Ersteinstellung oder bei einer Therapieumstellung.
Als instabile Stoffwechsellage würde ich auch HbA1c-Werte bezeichnen, die nicht im Zielbereich liegen und auch Werte im Zielbereich mit stark schwankendem Blutzucker und damit verbundenem Risiko einer Hypoglykämie-Entwicklung.
Diabetes aktuell:
Das IQWiG hat sein Urteil auf der Basis der untersuchten Datenlage gefällt und beschrieben, dass von 15 Publikationen aus 10 Studien lediglich 5 in die Bewertung eingehen konnten. Ist denn die Datenlage wirklich so schlecht und ist nicht vor diesem Hintergrund der Beschluss des G-BA nachvollziehbar?
Schnell:
Wenn ich die Auswahl der in die Bewertung eingegangenen Studien ansehe, kann ich nur mit dem Kopf schütteln. Eine Vielzahl von Untersuchungen wurde nicht berücksichtigt und die Auswahl wurde auf der Basis sehr subjektiver Kriterien getroffen. So wurden Studien einbezogen, in denen zwar eine Blutzucker-Selbstmessung durchgeführt wurde, dann aber doch eine Therapieumstellung auf Basis der HbA1c-Werte und nicht auf Basis der Blutzuckerwerte erfolgte. Neuere Studien wie die STeP-Studie[*] sind gar nicht berücksichtigt worden und gerade diese "lege artis" über eine Zeitraum von 12 Monaten durchgeführte Studie hat ja gezeigt, dass bei schlecht kontrollierten nicht mit Insulin behandelten Typ-2-Patienten eine strukturierte Selbstkontrolle den HbA1c-Spiegel signifikant absenkt. Die Auswahl der Studien wurde ja auch von diabetesDE und der Deutschen Diabetes-Gesellschaft in der Vergangenheit schon sehr kritisiert.
Diabetes aktuell:
Nun wurde die STeP-Studie ja erst kürzlich veröffentlicht. Das IQWiG konnte diese doch gar nicht mit heranziehen, oder?
Schnell:
Das kann ich so nicht gelten lassen. Die Studie ist zwar erst gerade veröffentlicht worden, die Ergebnisse sind aber schon seit Längerem bekannt und sind auch zur Verfügung gestellt worden.
Diabetes aktuell:
Das IQWiG urteilt ja nicht nur, dass es keinen medizinischen Vorteil der Selbstkontrolle gibt, z. B. eine bessere Einstellung und weniger Hypoglykämien. Auch Mortalitätsunterschiede wurden nicht festgestellt. Es gab offensichtlich noch nicht einmal eine bessere Lebensqualität bei den Patienten in der Selbstkontrolle - entspricht das auch Ihren Erfahrungen?
Schnell:
Ganz im Gegenteil. Wenn die Blutzucker-Selbstmessung in dieser Gruppe der nicht mit Insulin behandelten Patienten strukturiert durchgeführt wird, d. h. eingebettet ist in eine Schulung und in Abstimmung mit dem Diabetesteam, und wenn die Messung der Blutzuckerwerte Einfluss hat auf die Therapieentscheidung - dann bringt sie einen großen Nutzen. Das Selbstmanagement gibt dem Betroffenen dann Sicherheit und die Möglichkeit, selbständig zu agieren und eigenverantwortlich mit der Erkrankung umzugehen. Er hat dann eben auch die Chance, präventiv zu agieren, d. h drohenden Unterzuckerungen vorzubeugen. Das ist ja auch im Alltag von enormer Bedeutung, denken wir nur einmal an den Auto fahrenden Diabetiker oder an den, der Maschinen bedienen muss. Auch Menschen mit einem unregelmäßigen Tagesablauf oder solchen, die viel auf Fernreisen sind, wird der Umgang mit der Krankheit leichter gemacht. In diesen Situationen können wir die Sicherheit verbessern und die Zufriedenheit mit der Therapie erhöhen - und dafür gibt es auch Belege in Untersuchungen. Auch in der vorhin genannten STeP-Studie wurde das mit analysiert.
Diabetes aktuell:
Welche Kritik richten Sie an die Experten und an die Industrie, die das Selbstmanagement propagieren - was wurde hier in der Vergangenheit versäumt, was muss jetzt gemacht werden?
Schnell:
Den Weg zum Erfolg sehe ich in der vom Beschluss betroffenen Gruppe darin, dass sie jetzt einen individuellen Ansatz braucht. Wir müssen vermitteln, warum eine strukturierte Blutzucker-Selbstkontrolle von Bedeutung ist und die Technik der Selbstkontrolle muss gut gelehrt und gelernt werden. Das muss einfließen in das Diabetesmanagement und es ist wichtig, dass sich das Diabetesteam auch die Zeit nimmt, die Werte gemeinsam mit den Betroffenen anzuschauen. Natürlich macht es keinen Sinn, die Blutzucker-Selbstmessung als Selbstzweck durchzuführen, d. h. die Werte nicht zu analysieren, keine therapeutischen Konsequenzen daraus zu ziehen.
Diabetes aktuell:
Sehen Sie noch Lücken in der Studienlage?
Schnell:
Die Medizin ist einer ständigen Weiterentwicklung unterworfen und unser Wissen nimmt kontinuierlich und rasch zu. Wir wünschen uns weitere Studien - und in diese Richtung gehen auch die nationalen wie internationalen Leitlinien - mit Tendenz auf eine gewisse Standardisierung bei den zur Blutzucker-Selbstmessung verwendeten Schemata. Ein Beispiel ist die intermittierend durchgeführte Messung, z. B. 1 Mal pro Monat an 3 aufeinander folgenden Tagen 7 Mal täglich. Hier gibt es sicher gute Möglichkeiten, auch Blutzuckerprofile zu erkennen und daraus dann Schlussfolgerungen abzuleiten.
Diabetes aktuell:
Nun sind medizinische Entwicklungen heute ja immer auch mit Kostenfragen verknüpft. Wenn das Bundesministerium überzeugt werden kann, dass der Beschluss des G-BA geändert werden muss, wie könnte denn ein vernünftiger Kompromiss aussehen?
Schnell:
Es geht ja per se hier nicht um eine Ausweitung der Blutzucker-Selbstmessung, es geht darum, die Selbstkontrolle eingebettet in die bestehenden Strukturen weiter zu ermöglichen. Es geht auch darum, diese große Gruppe von nicht mit Insulin behandelten Menschen mit Diabetes - und wir reden hier von rund 4,7 Millionen in Deutschland - nicht über das hinaus weiter zu belasten, was ihnen ihre chronische Krankheit ohnehin schon abverlangt. Ich wünsche mir eine Modifikation, die nicht dazu führt, dass diese große Gruppe einfach generell von der Erstattung ausgenommen wird. Ich halte es für verfehlt, hier nur den Weg über die Ausnahmeregelungen zu gehen.
Will man diesen Weg aber doch gehen, dann muss man die Ausnahmen sehr viel breiter fassen. Insbesondere der neu diagnostizierte Patient mit Diabetes muss ganz unabhängig von der gewählten Therapie die Möglichkeit bekommen, die Blutzucker-Selbstkontrolle zumindest zeitweise durchzuführen. Hier lernt er sehr viel, hier kann man ihm sehr viel über die spätere Diabeteseinstellung vermitteln, vor allem auch, was die Vermeidung von Komplikationen und Spätfolgen betrifft. Käme es zu dem Weg über die Ausnahmeregelungen, wünschte ich mir vor allem auch eine Verminderung des Dokumentationsaufwandes bei den Ärzten.
Diabetes aktuell:
Wie schätzen Sie die Lage realistisch ein? Wird es die Selbstkontrolle bei Typ-2-Diabetes außerhalb der Ausnahmeregelungen nur noch für die Patienten geben, die sich die Teststreifen leisten können und wollen?
Schnell:
Das wäre fatal, aber der G-BA hat sich ja nicht ganz gegen eine Erstattung ausgesprochen. Ich erwarte und hoffe, dass mit Augenmaß gehandelt wird. Sonst kommt es zu einer weiteren Belastung bei Menschen, die durch ihre chronische Krankheit ohnehin schon auch finanziell stark gefordert sind. Man kann natürlich auch die Frage stellen, ob bei einer Durchsetzung des jetzigen Beschlusses nicht die Zahl der Typ-2-Diabetiker mit einer guten Blutzuckereinstellung sinken würde und welchen Einfluss das auf die Zahl der Komplikationen und Spätfolgen hätte.
Diabetes aktuell:
Herr Professor Schnell, vielen Dank für das Gespräch.

zuletzt bearbeitet: 12.05.2011 nach oben

Günther Buck, Demeter Verlag in der Georg Thieme Verlag KG und
Professor Oliver Schnell von der Forschergruppe Diabetes
am Helmholz-Zentrum in München

Quellen

* Polonsky WH, Fisher L, Schikman CH et al. Structured Self-Monitoring of Blood Glucose Significantly Reduces A1C Levels in Poorly Controlled, Noninsulin-Treated Type 2 Diabetes: results from the Structured Testing Program study. Diabetes Care 2011; 34; 262-267

Bildquelle: Professor Oliver Schnell, privat

Wir danken Herrn Günther Buck vom Demeter Verlag in der Georg Thieme Verlag KG und Herrn Professor Oliver Schnell für die freundliche Publikationsgenehmigung!

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