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Diabetes: Medizin zwischen Ethik und Ökonomie

Abstract zum Vortrag von Stephan A. Schreiber, Diabeteszentren Schreiber in Quickborn und Itzehoe, im Rahmen der Pressekonferenz zur 9. Herbsttagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft am 06. November 2015 in Düsseldorf.

Die Schere zwischen Anspruch und Bezahlbarkeit

Stephan A. Schreiber Betriebswirtschaftliche Betrachtungen der Kostenträger und volkswirtschaftliche Bedeutung des Gesundheitswesens stehen geradezu diametral zueinander. Wie ein roter Faden zieht sich seit Jahrzehnten durch das gesamte Gesundheitssystem die Feststellung, es sei kein Geld vorhanden, die Ressourcen seien zu knapp bemessen. Weder neue Finanzierungsgesetze, restriktive Sparzwänge, die Veränderung der Entgeltsysteme noch die durch das Gesundheitsmodernisierungsgesetz (GMG) geprägten neuen medizinischen Versorgungsstrukturen haben etwas hieran ändern können.

Aber wie schließt man die Schere zwischen Anspruch und Bezahlbarkeit?

Analysiert man Meinungsumfragen, steht der Wunsch nach Gesundheit meist an erster Stelle, das heißt, Gesundheit wird als eines der höchsten Güter des Menschen eingeschätzt. Dennoch wird von Kostenträgern und Politik fast gleichzeitig die Forderung laut, gerade in diesem Bereich zu sparen.

Warum kann und will sich die Gesellschaft das Gesundheitswesen so nicht mehr leisten? Ist gute Medizin unbezahlbar geworden? Oder sind die Ansprüche überdurchschnittlich gestiegen? Wecken die unbegrenzt erscheinenden Möglichkeiten der Medizin immer neue Bedürfnisse?

Medizin vermag in der Tat heute viele Krankheiten zu heilen, die früher unweigerlich zum Tode führten. Seit Jahren arbeiten Forscher weltweit an der Entwicklung von neuen Medikamenten und Verfahren gegen Krebs, entwickeln Impfstoffe und neue technische Geräte. Das bedeutet einerseits, dass medizinischer Fortschritt einen ständig steigenden Anteil an öffentlichen Mitteln einfordert und dass gleichwohl nicht jedem Patienten eine medizinische Versorgung auf dem neusten Stand der Erkenntnisse geboten werden kann. Medizin ist einerseits "unersättlich", andererseits regional nicht gleichwertig verteilt.

Welche Wege können aus dieser Schere herausführen? In Anbetracht der steigenden Kosten im Gesundheitswesen ist die Frage zu stellen, ob die zur Verfügung stehenden Ressourcen tatsächlich immer in die richtige Richtung gelenkt werden.

Die Kosten des Diabetes mellitus (KoDiM-Studie) - betriebswirtschaftliche Betrachtungen

Direkte Kosten

Nach der KoDiM-Studie aus dem Jahre 2001 beliefen sich die direkten Diabetes-Exzess-Kosten (Mehrkosten eines an Diabetes mellitus Erkrankten im Vergleich zu einem Durchschnittsversicherten) durchschnittlich auf jährlich 2.507 Euro pro Patient. Hochgerechnet auf die Gesamtzahl der Diabetiker in Deutschland entstanden im Jahr 2001 direkte Diabetes-Exzess-Kosten in Höhe von 14,6 Milliarden Euro.

Indirekte Kosten

Die indirekten Diabetes-Exzess-Kosten (Kosten für Arbeitsunfähigkeit sowie Frühberentungen) beliefen sich 2001 auf 1.328 Euro pro Patient. In der Summe kamen so 7,7 Milliarden Euro an indirekten Kosten (Exzess-Kosten-Anteil) im Jahre 2001 zusammen. Davon entfielen 1,1 Milliarden Euro auf Arbeitsunfähigkeit sowie 6,6 Milliarden Euro auf Frühberentungen.

Detailanalyse der Kosten

Die Kosten des Diabetes sind abhängig von den Begleiterkrankungen und Komplikationen. Von den jährlichen direkten Diabetes-Exzess-Kosten in Höhe von 2.507 Euro entfielen lediglich 542 Euro (oder circa 22 Prozent) auf die Behandlung der Grunderkrankung Diabetes mellitus. Darin enthalten sind stationäre Behandlungen (zur Blutzuckereinstellung bei Zuckerstoffwechselentgleisungen), Hilfsmittel (zum Beispiel Blutzuckermessstreifen), ärztliche Leistungen (zum Beispiel Blutzuckermessungen) sowie die Kosten für Antidiabetika (Insulin und orale Antidiabetika). Letztere verursachten mit 251 Euro nur zehn Prozent (im Jahre 2001) der gesamten direkten Diabetes-Exzess-Kosten; durch Rabattverträge heute eher noch weniger.

Nicht ganz vier Fünftel der direkten Diabetes-Exzess-Kosten entstanden durch Behandlung (Sozialgesetzbuch/SGB V) und Pflege (SGB XI) von Diabetes Begleiterkrankungen und Komplikationen.

Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) - volkswirtschaftliche Betrachtungsweise

Der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP 2006 = 2.302,7 Milliarden Euro) ist die wichtigste gesundheitsökonomische Kennziffer. Sie gibt in komprimierter Form Auskunft über die ökonomische Bedeutung des Gesundheitswesens eines Landes. Die Kennziffer kann in zweierlei Hinsicht interpretiert werden: Zum einen liefert sie Hinweise auf den (positiven) Beitrag des Gesundheitswesens am erwirtschafteten BIP. Zum anderen zeigt sie auf, wie viel Prozent des BIP die Volkswirtschaft allein für den Erhalt und die Wiederherstellung der Gesundheit der Bürger verwendet.

An dieser Stelle sollte jedoch auf die eingeschränkte Aussagekraft des Indikators hingewiesen werden. Eine Messung der Bruttowertschöpfung des Gesundheitswesens ist mithilfe der Gesundheitsausgabenrechnung zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich. Die Kenngröße "Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt" gilt daher als die wichtigste Kennziffer, um die ökonomische Bedeutung des Gesundheitswesens für die Volkswirtschaft zu beschreiben.

Im Jahr 2006 lag der Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP in Deutschland bei rund 10,6 Prozent. Zwischen 1995 und 2003 ist er von 10,1 Prozent um 0,7 Prozentpunkte angestiegen.

Die Bedeutung des Gesundheitssektors macht auch folgender Vergleich deutlich: Die Gesundheitsausgaben betrugen in Deutschland im Jahr 2006 circa das 2,4-Fache des Inlandsumsatzes (ohne Mehrwertsteuer) der deutschen Automobilindustrie. Die Zahl der Beschäftigten im Gesundheitswesen war etwa 5,7-mal so hoch wie die Zahl der Beschäftigten in der Automobilindustrie. (Quelle: http://www.gbebund.de/gbe10/abrechnung.prcabrtestlogon?puid=gast&paid=0&pknoten=FID&psprache=D&psuchstring=12012#Kap3.4)

Konflikt zwischen zwei gesellschaftlichen Betrachtungen

Der Handlungsbedarf in der Versorgung von Menschen mit Diabetes ist nach wie vor hoch. Die vor 25 Jahren in St. Vincent formulierten Ziele sind bei Weitem nicht erreicht worden. Zugleich besteht ein hohes Versorgungsgefälle beim Diabetes mellitus Typ 2, von der Diagnose (Dunkelziffer) über den Grad an kontinuierlicher Behandlung bis hin zur Erreichung von Therapiezielen.

Die Anforderungen der evidenzbasierten Medizin haben zusammen mit den damit verbundenen Steuerungsinstrumenten zu einer erheblichen Verunsicherung bei Ärzten bei der Verordnung neuer Antidiabetika geführt. Infolge ist eine deutliche Ausweitung der Versorgung mit Insulin ("Insulinisierung") zu verzeichnen, die in ihren Auswirkungen in Bezug auf patientenrelevante Endpunkte derzeit nicht abschätzbar ist.

Dringend benötigt wird ein verbindlicher Konsens, welchen Stellenwert neue Antidiabetika unter den Bedingungen eingeschränkter Möglichkeiten für die Vorlage der geforderten Evidenz und des ausgesprochen hohen Handlungsbedarfes in der Diabetestherapie unter gleichzeitiger Berücksichtigung der Notwendigkeit wirtschaftlichen Handelns haben können.

Die Volkskrankheit Diabetes mellitus ist ein repräsentatives Beispiel für die Gegensätzlichkeit zweier gesellschaftlicher Betrachtungsweisen - der betriebs- und der volkswirtschaftlichen - oder auch zweier philosophischer: Ethik oder Ökonomie!

Zugleich stellt der Diabetes mellitus eine der größten gesellschafts- und sozialpolitischen Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte dar!

(Es gilt das gesprochene Wort!)

Bildunterschrift: Stephan A. Schreiber
Bildquelle: Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG)

zuletzt bearbeitet: 02.12.2015 nach oben

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