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Das Gesundheitssystem als gesellschaftliche Aufgabe

Abstract zum Vortrag von Prof. Dr. rer. nat. Peter Rösen, Stellvertretender Direktor des Leipniz-Instituts an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Leiter der Arbeitsgruppe Herz- und Gefäßstoffwechsel am Deutschen Diabetes-Zentrum, Düsseldorf, im Rahmen der 42. Jahrestagung der Deutschen Diabetesgesellschaft in Hamburg.

Wirtschaftlicher Druck, immer älter werdende Patienten und ein verändertes Arzt-Patienten-Verhältnis sind die Herausforderungen, denen die Medizin und die Gesellschaft sich stellen müssen

Die derzeitige Medizin sieht sich in einem besonderen Maße differenten, widersprüchlichen Ansprüchen und Herausforderungen ausgesetzt:

Der ökonomische Druck als Folge der raschen Entwicklung der medizinischen Techniken und Möglichkeiten sowie des Wandels in der Altersstruktur der Bevölkerung wird zwangsläufig dazu führen, dass medizinische Entscheidungen zunehmend unter ökonomischen Gesichtspunkten getroffen werden müssen, die medizinischen Notwendigkeiten aber nur sekundär berücksichtigt werden. Oder wie es der Präsident der DDG, Prof. Dr. Kerner, formuliert hat: "Unser Problem ist ... die Notwendigkeit der Rationierung von Leistungen bei begrenzten Ressourcen". Dem widerspricht die Erwartung des Patienten, dass der Arzt ihn bestmöglich berät und die daraus abgeleitete Therapie zu Lasten der Solidargemeinschaft verordnet werden kann. Da nach Schätzungen aus dem Jahr 2005 etwa 8 Millionen Bundesbürger am Diabetes bzw. seinen Folgen erkrankt sind und die Zahl der betroffenen Patienten jährlich um ca. 5 % wächst, wird gerade am Beispiel der Diabetesbehandlung das ökonomische Problem deutlich (geschätzte Kosten für das Jahr 2005 25 Mrd. Euro).

Die Hochleistungsmedizin ermöglicht es immer mehr Menschen älter zu werden, allerdings mit der Konsequenz, dass die Zahl derer, die chronisch krank (Diabetes, Hochdruck, Dyslipidämien) werden und mit irgendeiner Form der Behinderung weiterleben, zunimmt. Gleichzeitig nehmen die gesellschaftlichen Ansprüche an die Medizin zu; es geht nicht mehr allein um Heilung und Minderung von Leid, sondern die "wunscherfüllende Medizin" drängt nach vorn; "enhancement" heißt ein Leitmotiv, "um die Konstitution oder Funktionalität des Menschen über das Maß hinauszutreiben, das für gute Gesundheit notwendig ist" (Parens 1998). Gleichzeitig wird die Unterscheidung zwischen Krankheit und Gesundheit schwierig; Begriffe wie "Wellness", "Lebensqualität", "Normalität" und "Optimierung" werden für Patientenansprüche und damit ärztliches Handeln von Bedeutung. Die Behandlung wird auf Grund der technischen Entwicklung anonymer und sprachloser.

Das Verhältnis Patienten-Arzt unterliegt einer Wandlung; Patientenautonomie und nicht mehr die ärztliche Fürsorge werden als Ziel formuliert. Dem "Health-Care Consumer" steht der Arzt als "Leistungserbringer" gegenüber; Praxis und Krankenhaus werden zum "Profit-Center". Das Vertrauensverhältnis wird abgelöst durch ein Vertragsverhältnis mit definierten Leistungen. Individuelle Therapieerfahrung des Arztes, Patientenpräferenzen und wissenschaftliche Evidenz müssen in einem individualisierten Therapieplan ihren Ausdruck finden. Andererseits ist gerade beim Diabetes eine massive Reduktion des Risikos durch einen gesundheitsfördernden Lebensstil möglich. Prävention und Gesundheitsförderung durch Änderung des Lebensstils erfordern einen komplexen Vertrauens-, Informations- und Diskursprozess ("Shared Decision Making", "gestützte Autonomie", Geisler).

Diese Herausforderungen haben uns veranlasst, auf dem diesjährigen Kongress der Deutschen Diabetes-Gesellschaft eine Diskussion anzustoßen, die über den fachspezifischen Rahmen des Diabetes und seiner Komplikationen hinausgeht und nach den ethischen Orientierungspunkten für ärztliches Handeln in dieser schwierigen Situation fragt. Wir sind der Meinung, dass eine Diskussion grundlegender Fragen als Grundlage für die zu treffenden Entscheidungen und die Steuerung der zukünftigen Entwicklung des Gesundheitssystems notwendig ist. Die Gesellschaft für Innere Medizin hat dieser Notwendigkeit versucht Rechnung zu tragen, indem sie auf ihrem diesjährigen Kongress ein Symposium zum Thema "Hochleistungsmedizin mit Menschlichkeit - Medizin für den ganzen Menschen" veranstaltet hat. Gibt es ein verbindliches, akzeptiertes Menschenbild als Grundlage des ärztlichen Handelns? Wodurch ist es charakterisiert, was folgt daraus für das Arzt-Patienten-Verhältnis, aber auch für die gesellschaftliche Organisation von Gesundheit?

Zwei Redner werden versuchen, sich diesen Fragestellungen aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu nähern:

Prof. Dr. D. Birnbacher, Lehrstuhl für praktische Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf: Herr Birnbacher beschäftigt sich seit langem mit Fragen der angewandten Ethik, insbesondere im Bereich der Medizin ("Human cloning and human dignity", "Quality of life - evaluation or description", Patienteneigenverantwortung und Selbstbestimmung, Definition des Todes unter ethischen Aspekten).

Prof. Dr. Dr. h. c. P. Kirchhof, Richter des Bundesverfassungsgerichtes a.D., Lehrstuhl für Finanz- und Steuerrecht an der Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg: Im Vordergrund seines Beitrages werden die Versorgungsstrukturen und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stehen, die ein Leben als "mündiger Bürger" bzw. das Aufwachsen zum mündigen Bürger ermöglichen; welche normativen Ansprüche sind zu erfüllen? Was bestimmt das Verhältnis zwischen Risikoabsicherung und Selbstbestimmung? Wie könnte das Spannungsfeld zwischen den Forderungen des Bürgers nach Fürsorge und Absicherung in Einklang gebracht werden mit den Möglichkeiten der Gesellschaft?

zuletzt bearbeitet: 15.05.2007 nach oben

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